Text: Irene Kohlberger
Irene Kohlberger
Leiter: Harald Kastner
Monika Friedreich Horst Holzer Maximilian Holzer Irene Kohlberger Viktor Kosnar Marlies Stubits Nikolaus Weidinger Christine Zuna Kratki Dieter Zuna Kratki
Diesen kleinen Bericht widme ich meinen Reisegefährten, unserem Reiseleiter Harald Kastner und dem Chauffeur Mohammed, der unseren Bus sicher über die Straßen Marokkos lenkte.
mit eingezeichneter Reiseroute
Unsere Reise beginnt am Flughafen Wien. Zwei Stunden vor Abflug einchecken. Es ist halb fünf am Morgen: Gepäck aufgeben, zur Sperre wandern, das Toilettenzeug im „Plastiksackerl“ und das Handgepäck in die Durchleuchtungscontainer legen, dann zum elektronischen „Triumphbogen“, wo ich glücklicherweise ohne „Laut“ durchkomme. Danach noch die magnetischen Bürsten über mich ergehen lassen und ich bin frei… Frei, um in der zugesperrten Geschäftsmeile herumzuwandern, das einzige offene Cafe zu besuchen oder hinter einem Buch in der Wartehalle zu versinken. Ich wähle das Letztere! Abflug nach Brüssel um 6 h 30. Das aufregende Gefühl vor dem Start, wo sich so langsam der Rumpf des Flugzeuges emporrichtet und wir in die Sessel gedrückt werden, ist für mich noch immer ein besonderes Erlebnis und ich lasse mich hineinfallen in den wonnevollen Schauer… Zwischenstopp im Flughafen von Brüssel: Eindrucksvolle Hufeisenanlage – mit Förderbändern, die sich scheinbar ins Unendliche fortsetzen. Futuristische Gestaltung mit viel Glas und Ausblicke auf die „rastenden Flugzeuge“…
Es dauert ewig bevor man vom Flugsteig A bis B kommt – doch schließlich hat das Getragenwerden ein Ende und ich bin wieder vor einem Checkpoint, wo sich das bekannte Ritual von neuem abwickelt. Tasche in die Plastikkisten, Jacke aus – durch das Sicherheitstor. Ich habe Glück und brauche meine Bergschuhe nicht ausziehen. Nach welchem System die Leibesvisitation erfolgt? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich seinerzeit an der Grenze zuRumänien Ähnliches erlebte. Damals war es das erste Mal und es war demütigend. Jetzt ist es bereits zur Routine geworden. Es sind so viele Sicherheitsbeamte da, dass ich mich durchschlängeln muss. Am Förderband direkt sitzt eine Art „Resitante“ und die macht ihre Arbeit genau. Die meisten Herren vom Sicherheitsdienst stehen einfach nur schön herum. Doch vielleicht schrecken sie durch ihre bloße Anwesenheit die Terroristen ab. Der Warteraum an meinem Fluggate ist nur mäßig traulich: riesige Glasfenster umgeben die Wartenden und dazwischen läuft das Förderband. Doch schließlich öffnet sich die Pforte nach Casablanca. Man „wuzelt“ sich über die Gangway und durch die schmale Einstiegstür des Flugzeugs und sinkt auf den reservierten Sitz. Neben mir in der Sitzreihe ein redseliger Zeitgenosse, der während der gesamten Flugdauer ständig quatscht (in der Lautstärke eines Schwerhörigen), animiert von einer hübschen Marokkanerin. Wie sie das Ganze ausgehalten hat? Ich hätte ihm am liebsten etwas in den Mund gestopft. Endlich Landung – dann durch die Pforten der Einwanderungsbehörde. Doch davor umweht mich noch eine leichte orientalische Brise, ausgelöst durch fantastisch geschmückte Uniformen der dunkelhäutigen Sicherheitsorgane. Im Flughafen-WC treffe ich ein Putzmädchen an (mit Kopftuch, eine weiße Uniformmütze darübergestülpt), am Boden kniend und ihr Handy aus der flughafeneignen Steckdose fütternd. Während ich warte (es gibt nur eine Kabine) beobachte ich das Wickeln eines dunkelhäutigen Knaben, der von seiner Mutter bereits im zarten Alter vergöttert wird.
Das Warten in der Visaschlange ist auch nur begrenzt lustig – doch schließlich bin ich durch mit Stempel und registriert. Ich finde meinen Koffer, aber nicht meine Reise-gruppe. Berührt von meiner „gelinden Verzweiflung“ schickt mich die Reiseleiterin der Gruppe, die von Georeisen organisiert wurde, nach draußen ins Unbekannte. Dort erblicke ich Mohammed, einen dunkelhäutigen Mann, der an der Barriere steht und meinen Namen sagt oder so etwas Ähnliches und ich folge ihm. Wie er mich identifiziert hat? Mein suchender Blick und meine verzweifelte Miene haben mich vermutlich verraten. Draußen im Vorraum ist die Reisegruppe bereits versammelt und nur ich, die „Frau Doktor“ -der Titel wird mir bleiben -habe noch gefehlt. Mehr oder weniger laut vor sich hinfluchend wechselt unser Reiseleiter, der uns während der kommenden Tage begleiten und betreuen wird, am touristenbelagerten Wechselschalter unser europäisches Geld in die hiesige Währung. Dann geht es hinaus in die warme sonnige Atmosphäre Casablancas; allerdings sind wir noch weit entfernt von der Stadt, weil der Flughafen ursprünglich militärischen Zwecken gedient hat und Stadtnähe dafür nicht gerade erwünscht war. Auf unserer Fahrt zur Stadt durchqueren wir eine weite, flache, palmengeschmückte Landschaft, umgeben von der Helligkeit der südlichen Sonne. Im Inneren unseres Reisebusses kommt es zu ersten kurzen „Berührungen“ mit den Anderen…
Erstes Ziel ist die Hassan Moschee. Riesig – das Minarett ragt auf wie ein großer Zeigefinger, der weithin über den Atlantik weist. Fast 200 m hoch erhebt es sich als höchstes Sakralbauwerk der Erde, das während der Nacht noch einen Laserstrahl übers Meer hinaus sendet…
Hassan II ließ die Moschee als anspruchsvollstes Bauwerk, das jemals in Marokko errichtet wurde, in siebenjähriger Bauzeit vollenden (1993). Wobei Vollendung nur für die Moschee als solche gilt. Von der Koranschule und der Bibliothek stehen lediglich die Außenmauern. Das, worauf es ankommt, Bücher und Studierende, gibt es nicht.
Gebaut in übermenschlichen Dimensionen, verziert mit überlieferten Formen und Farben, ausgestattet mit Marmorfußböden, Kachelmosaiken, Keramikplättchen, Schnitzereien aus Zedernholz ( hier gibt es noch Zedern in Natura) und Kristalllüster erweckt die Moschee beim Betrachter einen überwältigenden Eindruck…
So liest es sich etwa im Reiseführer. Doch wir können das nicht überprüfen, weil uns der Einblick in das Innere der Moschee verwehrt wird – sie wird restauriert …
Wir wandern um den gigantischen Bau und fotografieren. Manchmal verstecken wir uns hinter der Kamera, um Details besser „zu sehen“, z.B. die stilisierte Fatimahand, die als Dekorationselement auf den Brunnenmosaiken immer wiederkehrt, daneben schlichte Säulenkapitelle, elegante Glasluster, malerische Durchblicke.
Von unserem Reiseleiter erfahren wir, dass der König an der Ostseite der Moschee einen eigenen Gebetsplatz hat, der mit – normalerweise im Boden versenkten – Metallwänden geschützt werden kann. Auch das westliche Hauptportal ist nur für ihn reserviert. Ich frage mich in meinen Gedanken, wie sich Herrscher fühlen mögen, die solche gewaltigen Bauwerke errichten – was Hitler, Mussolini, Caracalla, Nero und die anderen, die ich gar nicht kenne, gefühlt, gedacht haben, wenn sie ihr kleines menschliches Ich in Konfrontation zu diesen gewaltigen Bauwerken setzten? Wie sie damit lebten, von Metallwänden geschützt werden zu müssen? Würde gern ihre Begründungen hören. Doch das Meer, das sich rund um die durch versenkte Betonpfeiler geschaffene Baufläche ausbreitet, beruhigt meine Augen und Gedanken. Die Wellen kommen und gehen, tragen Müll heran und lecken an den Fundamenten der Moschee. Junge Leute machen es sich auf den Umfassungsmauern des Moscheegeländes gemütlich. Sie genießen die Sonne und hören Musik mit ihren Walkmans.
Dann geht es mit dem Bus den Strand entlang nach Süden. Die Fassaden von Cafes und Restaurants, manche sehr reich und schön ausgestattet, wechseln ab mit offenen Strandesplanaden, wo sich einige junge Leute herumtummeln. Es ist Winter, auch hier und eigentlich wirkt das Ganze ein wenig traurig, weil die Menschen und das Leben fehlen, das zu Stränden einfach dazugehört.
Wir durchqueren das Villenviertel, das unser Reiseleiter in höchsten Tönen lobt – ja es ist schön, sogar sehr schön, wenn man sich die hohen Mauern wegdenkt, die rund um die Häuser aufragen. Aber sind Villenviertel nicht immer schön? Und worin unterscheiden sich die Bewohner dieser Viertel von jenen in anderen Städten? Sind es nicht immer diejenigen, die sich aufgrund ihres Reichtums den Luxus der grünen Gärten leisten können, die hier zweifellos von schwarzen und anderen dienstbaren Geistern täglich versorgt werden müssen?
Doch bald ändert sich die Szenerie. Quirliges Stadtleben umfängt uns. Mehrstöckige Gebäude und Hochhäuser tauchen vor uns auf; Reklametafeln und Verkehrsschilder in arabischer Sprache. Es lärmt und hupt – die Menschen hasten wie überall und dennoch liegt ein merkwürdiger Schmelz über der Stadt. Ist es das Licht? Sind es die bunten Kaftane oder die merkwürdigen Pantoffeln, die von vielen Leuten getragen werden? Sind es die vielfältigen dunklen Gesichter, die wir als Europäer auf den ersten Blick nur schwer unterscheiden können? Wahrscheinlich alles zusammen:
Stadt der Gegensätze
Wir halten vor einem großen von außen ziemlich unansehnlichen Betongebäude, das sich später als katholische Kirche Eglise Notre Dame de Lourdes herausstellen wird. Vollendet wurde sie 1956: genau 100 Jahre nach der Marienerscheinung in Lourdes. Merkwürdig genug, dass wir in einem islamischen Land zuallererst eine katholische Kirche von innen sehen. Aber diese Kirche hat es in sich. Glasfenster von beträchtlicher Höhe bilden die Längswände der Seitenschiffe, die den Eintretenden mit einem überwältigenden Licht- und Farbenspiel begrüßen. Entworfen wurden sie von dem aus Chartres stammenden Künstler Gabriel Loire, der u.a. Formen der berberischen Überlieferung zur Gestaltung seines Marienzyklus verwendete. Als Inhalte wählte er Texte aus der Apokalypse und Ereignisse, die sich um Marias Wirken in der Geschichte ranken: Maria als apokalyptische Frau, mit Sternenkranz um ihr Haupt und den Drachen zu Füßen, Maria in der Glorie ihrer Himmelfahrt, als Schutzmantelmadonna, als Rosenkranzkönigin…
Ich frage mich: Wer war der Mann, der solche Bilder schaffen konnte in einer Zeit, die den lebendigen Glauben mit der Walze der Aufklärung und des Liberalismus niedergebügelt hat? Er muss ein halbes Leben in der Kathedrale seiner Heimatstadt verbracht haben, um ein atmosphärisches Werk dieser Dichte zu schaffen, das dem heute so fremden Thema der Marienverehrung gewidmet ist. Ich könnte hier stundenlang herumgehen, um die einzelnen Szenen zu entschlüsseln – aber unsere Zeit ist begrenzt und ich kann nur „schwachbrüstige“ Fotos mit nach Hause nehmen.
Unser nächstes Ziel ist die Große Moschee, deren Minarett aus dem Ende des
18. Jahrhunderts stammt. Das Minarett ragt schlank empor. Als einfacher Ziegelbau ist es mit Gruppen von Spitzbogenfenstern geschmückt: z.B. drei in einer Reihe, die in einer ähnlich geformten Nische eingebettet sind. Im obersten Drittel verbindet sich das erhabene Ziegelrelief zu Rautenmustern, dem wir hier zum ersten Mal begegnen. Der obere Rand des unteren Säulenschaftes schließt mit einem einfachen Zinnenkranz ab. Den schmalen Turmaufsatz krönt eine Kuppel, die allerdings für uns unsichtbar bleibt. Auch hier müssen wir uns mit dem äußeren Eindruck der Moschee begnügen, ergänzt durch Arkadengebäude, wo Händler ihre Waren feilbieten. Die Atmosphäre ist gut hier, obwohl mir noch alles sehr fremd und verwirrend erscheint: Noch habe ich keinen inneren Plan, der durch die Busfahrt von einem wichtigen Platz zum anderen auch nicht so schnell zu gewinnen ist.
Das Herzensanliegen unseres Reiseleiters ist uns allerdings schon vertraut: der in Marokko fehlende geistige Anspruch, der Europa auszeichnet. Er stammt aus Graz und lebt hier schon mehr als zwanzig Jahre: Es ist ein Volk der Zeitungsleser und der Kreuzworträtsellöser! Sie lesen nichts und es gibt keine Bücher!
In den Schaufenstern der Buchläden finden sich vielerlei theologische Bücher, z. B. der Koran in Goldschnitt und kalligraphiert, esoterische Literatur, Kochbücher und technische Literatur. Auf den ersten Blick - mit Ausnahme des Korans – gar nicht so wesentlich anderes als bei uns – doch hinter den Glasscheiben gibt es in den Bücherregalen bei uns auch alles andere, was hier offenbar fehlt… Weiter geht es zum wichtigsten Platz von Casablanca, dem Place Mohammed V, dem eigentlichen Zentrum der Stadt. Auf dem Weg dorthin, gleichsam im Vorbeifahren, enthüllen sich wunderschöne und fremdartig gegliederte Art-deco-Fassaden. Der Place Mohammed V. ist von aufwendigen Bauten im neomaurischen Stil umgeben: vom Justizpalast, der Banque de Maroc, dem ehemaligen Theater und dem Rathaus. An einer etwas abgelegenen Ecke befindet sich die Hauptpost mit einer Erinnerungsplakette an den ersten Postflug von Marseille nach Casablanca durch Saint-Exupery. Schräg gegenüber, in den Garten der französischen Botschaft verbannt, steht das Reiterdenkmal des Marschall Lyauteys, einem Mann von großem politischem Weitblick, dessen Spuren wir immer wieder begegnen werden. Sein Denkmal ist von einem Bretterzaun umhüllt. Warum frage ich mich? Restaurierung? Angst vor Anschlägen?
Ich versuche auf dem Platz, der mit Blumenrabatten Palmen und Brunnen aufwarten kann, mein Gefühl der Fremdheit ein wenig loszuwerden. Doch es gelingt mir nicht. Noch sind die Menschen, die Gewalt der Bauten so überwältigend, dass ich nichts dagegenhalten kann. Das wird mir erst am Abend gelingen, wenn der Sonnenuntergang hinter dem Hotel das vertraute südländische Ambiente herbeizaubern wird.
Doch noch sind wir im Herzen der Stadt. Wir fahren weiter und hören von den
Begegnungen der großen Politiker im Casablanca der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts – von den Besuchen Francos im Hotel Excelsior, wo er marokkanische Söldner anheuerte um die roten Revolutionäre in seinem Land niederzuzwingen . Moslems gegen Christen – eine neue Variante, die ich noch nicht gekannt habe. Doch der Hunger nach Macht heiligt offenbar alle Mittel. Dem Hotel gegenüber steht heute noch ein Uhrturm, der als einziges hohes Profangebäude der Franzosen die Machtübernahme durch die einheimischen Herrscher ( 1956 ) unzerstört überlebt.
Wir fahren vorbei an den Souks von Casablanca. Hinein dürfen wir nicht. Zu gefährlich! – laut unserem Reiseleiter. Aber so ganz glauben wir ihm nicht. Auf jeden Fall ist hier Leben zu spüren. Doch schon sind wir wieder vorbei: Richtung Süden, in Richtung Hotel.
Die Geschichte von Casablanca beginnt mit der kleinen Berbersiedlung Anfra, dem Hauptort des kleinen Berberreiches der Berghouata. Der almohadische Sultan Abd el Moumen gliederte Anfra und das dazugehörige Berberreich in das Marokkanische Großreich ein, und zwar Mitte des 12.Jhs. Anfra blieb aber weiterhin ein wichtiger Hafenplatz. Die Bewohner profitierten von der bevorzugten Lage ihrer Siedlung und wurden wohlhabend. Später,als sich die Seeräuberei zu einem lohnenden Geschäft entwickelte, wurde Anfra zu einem Piratenstützpunkt. Die Folge davon war, dass die Portugiesen 1468 die Siedlung vollständig zerstörten. Doch bald kamen die vertriebenen Einwohner zurück und widmeten sich wieder ihrem Seeräuberhandwerk. Die zweite Strafexpedition der Portugiesen erfolgte 1515, aber auch diesmal mit wenig nachhaltigem Erfolg. Ab 1575 besiedelten die Portugiesen Anfra von El Jadida aus und blieben hier bis 1755, als das Erdbeben von Lissabon auch die Häuser von Anfra zerstörte. Ab 1770 begannen sich hier Berberstämme niederzulassen und die Stadt teilweise wieder aufzubauen. Sie nannten sie damals Dar el Beida (in Übersetzung des
portugiesischen Casa Branca). Als sich Ende des 18.Jhs. spanische Kaufleute hier ansiedelten, nannten sie die Stadt, in Anlehnung an die früheren Namen: Casa Blanca. Im beginnenden 19.Jh., in der Phase der marokkanischen Selbstisolation, wurde der Hafen der Stadt geschlossen. Als im Jahre 1830 die restriktiven Bestimmungen aufgehoben wurden, lebten in Casablanca nur mehr 600 Menschen. Doch das Leben flutete bald zurück. Schiffe, Händler, Diplomaten kamen und es begann der unaufhaltsame Aufstieg der Stadt. Im Jahre 1906 wurde ein Hafenneubau beschlossen. Als die französischen Bauarbeiter eine Straße quer durch einen Friedhof legten, kam es am 30. Juli 1907 zu Protesten und Unruhen in der Bevölkerung. Das französische Konsulat wurde blockiert und das Viertel der Juden, die im berechtigten Verdacht standen mit den Franzosen zu kollaborieren, wurden geplündert und neun französische Hafenarbeiter getötet. Daraufhin griff Frankreich ein und unterwarf Marokko in der Form des 1912 geschlossenen Protektoratsvertrages. Nach dem ersten Weltkrieg wurden die Hafenanlagen noch einmal vergrößert, um die riesigen Phosphatmengen verschiffen zu können, die von den Franzosen beschlagnahmt wurden. Die Entwicklung von Casablanca schritt voran – begünstigt durch Privilegien - wodurch die Stadt zum Wirtschaftszentrum von Marokko wurde. Im zweiten Weltkrieg wurde Casablanca von den Aliierten besetzt und der Hafen als Nachschubbasis für den Feldzug in Nordafrika ausgebaut. Im Januar 1943 trafen sich hier Roosevelt, Churchill, Giraud und de Gaulle, um über eine gemeinsame Kriegsstrategie zu entscheiden. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit setzte sich der Aufschwung Casablancas unvermindert fort – doch entstanden durch dieses ungezügelte Wachstum auch viele Probleme, an denen jede Großstadt dieser Art heute leidet. Nach RABAT der gegenwärtigen Königsstadt.
Wir verlassen unser buntes im Stil vom Hundertwasser gestaltetes Hotel um acht Uhr dreißig nach einem „wahrhaft königlichen“ Frühstück. Dazu gab es alles: Obst in verschiedenen Variationen, Süßigkeiten, warme Speisen, köstliches Brot, Käse, Wurst und, und… hübsche junge Damen und Herren, die uns Kaffee und Tee servierten. Ein Seminarhotel, dass alle Sinne erfreute: selbst die Kamine fehlten nicht in den Appartements. Rabat liegt im Norden von Casablanca; eine lange Umfahrung bringt uns dahin, in die Königsstadt der Alaouiten von heute. Wahrscheinlich war dieser Hafenplatz schon den Phöniziern bekannt. Erste Siedlungsspuren gibt es aber erst aus karthargischer Zeit. Zur Stadt erhoben wurde der Ort durch die Römer. Im 10. Jh. gründeten die mit den Omajaden verbündeten sunnitischen Zenata-Berber eine Klosterburg, einen Ribat, um sich und ihren Glauben gegen die schiitischen Berghouata-Berber zu verteidigen. In der zweiten Hälfte des 11.Jh. machten die aus dem Süden Marokkos stammenden Almoraviden allen Glaubensstreitigkeiten ein Ende und setzten den sunnitischen Glauben durch. Der Almohadenherrscher Abd el Moumen (1147-63) ließ rings um Rabat eine Mauer in Stampflehmtechnik und mit Zinnen errichten, die sich bis heute erhalten hat. Als architektonischer Höhepunkt dieser Mauer gilt das Bab er Rouah. Die Meriniden ließen die Stadt unbeachtet; lediglich die Chellah diente ihnen als Nekropole. Zu Beginn des 16. Jh. hatte die Stadt nur noch 100 bewohnte Häuser, während das gegenüberliegende Sale, aufgrund der tatkräftigen Piraten ständig an Bedeutung zunahm. Nach der Vertreibung der Mauren und Juden aus Spanien unter Philipp III (1609) ließen sich viele Andalusier in Rabat nieder. Erst um diese Zeit wurden große Teile der Medina besiedelt und nach Osten hin durch eine zinnenlose Mauer aus Bruch- und Ziegelsteinmauerwerk abgesichert.Im Jahre 1627 rief man zusammen mit Sale – der Piratensiedlung – die unabhängige Republik Bou Regreg aus, die nach spanischem Vorbild von einem Stadtrat und einem Gouverneur bzw. Bürgermeister, der gleichzeitig Chef der Freibeuter war, regiert wurde. Ansätze bürgerlicher Mitbestimmung ausgerechnet bei den Piraten! Moulay Rachid, der Alaouiten - Sultan unterstellte den Piratenstaat wieder seiner Zentralgewalt; doch die Seeräuber trieben weiter ihr Unwesen. Erst Moulay Ismael gelang es dann, einen Großteil ihrer Gewinne in die eigenen Taschen fließen zu lassen, was den Korsaren die Lust an ihrem risikoreichen Geschäft verdarb. Das 19. Jh. war eine Zeit des Niedergangs für Stadt und Land. Marokko war zu keiner Zeit eine Seemacht gewesen. Handwerk und Waffentechnik waren auf dem Stand des 15./16. Jh. stehen geblieben. Dadurch hatten die Kolonialmächte leichtes Spiel beim Durchsetzen ihrer Interessen im Westen Nordafrikas. Nach der Unterzeichnung des Protektoratsvertrages im Jahr 1912 wurde Rabat Sitz des französischen Generalresidenten, eine Neustadt wurde errichtet, und auch der Sultan Moulay Youssouf verlegte seine Residenz von Fès nach Rabat, das seitdem Hauptstadt von Marokko geblieben ist.
Der Komplex der Alten Großen Moschee wird zum ersten Ziel unserer Stadtbesichtigung. Wir steigen aus und nehmen zunächst nur eine weite helle Treppe wahr, die zu einem mit drei Vielpass-Bogen verzierten würfelförmigen Gebäude führt, dem Grabmal von Mohammed V und seiner Söhne. Die mächtigen Eingangstüren bedeckt das Sonnengewebe Gottes, das zurzeit frisch vergoldet und geputzt wird Im Inneren eröffnet sich ein durch und durch komponierter Raum: erbaut und geschmückt im traditionellen Stil und mit einer Kuppel aus vergoldeter Stalaktiten überwölbt. Das von oben einfallende Licht, das durch die bunten Glasfenster der Kuppel gedämpft wird, taucht den Raum in ein angenehmes Halbdunkel. Einzelne Lichtbündel beleben die Vergoldungen der Schmuckelemente und faszinieren das Auge durch ungewöhnliche Farb-und Lichtspiele. Von alten überlieferten Mustern inspiriert, schmückten die modernen Handwerker Wände, Estraden und Galerien mit eindrucksvollen, grafischen Ornamenten.
Wir betreten eine Galerie, die den Blick in die eigentliche „Grabkammer“ freigibt und sehen im Zentrum des Raumes den beeindruckenden Marmor-Sarkophag von Mohammed V, der auf einem mächtigen Sockel ruht. Rundherum sind in regelmäßigen Abständen Fahnen aufgepflanzt, alle in den roten Landesfarben gehalten und mit dem Herrscherwappen bestickt. In den Ostecken je ein kleinerer Sarkophag für Hassan II und seinen Bruder Prinz Moulay Abdallah. König Hassan II, der 1999 auf höheren Befehl hin, sein Amt niederlegen musste, hat sich mit diesem einfachen Platz begnügt? Warum? Ein spätes Bescheidentun des mächtigen Herrschers vor Allah?
Erst auf den zweiten Blick bemerken wir zwischen den beiden kleineren Sarkophagen einen Iman, der auf einem Polster ruhend aus dem Koran liest. Offensichtlich ist es immer gut, wenn die Seele in die Worte des Koran eingebettet bleibt, auch wenn sie einstmals Herrschern gehört hat... Nur am Rande bemerkt: die gesamte neue Anlage wurde von einem vietnamesischen Architekten entworfen und gebaut. Hassan II, als Bauherr, offen gegenüber allen Künstlern der Welt?
Neben dem Mausoleum ist eine kleine Moschee angebaut, aber ohne Minarett. Dieses erhebt sich in einiger Entfernung vor uns und erscheint uns sehr alt und ehrwürdig. Tatsächlich wurde dieser Moscheeturm von quadratischem Grundriss, gegen Ende des 12. Jahrhunderts erbaut. Er wird Hassan-Turm genannt nach dem Enkel von Mohamed, dem V. Kalifen. Es ist aus rötlichem Sandstein errichtet, verziert mit einer in sich geschlossener Ornamentik, bestehend aus Blendarkaden, Blendnischen, Vielpassbögen und floralem Flechtwerk. Insgesamt wirkt der Bau „gestutzt“ und das ist kein Wunder, weil der heutige 44 m hohe Bau, ursprünglich 87m hoch sein sollte.
Die Fläche vor dem Turm gibt eine Ahnung von den gigantischen Plänen wieder, die ursprünglich hier verwirklicht werden sollten. Eine Moschee in der Größenordnung von 183m Länge und 139m Breite, sollte hier entstehen und den politischen und religiösen Großmachtsanspruch der Almohaden-Dynastie legitimieren. Aber es kam anders. Nach dem Tode des Herrschers wurde der Bauplan aufgegeben und die errichteten Teilwerke als Steinbruch benutzt: ein Schicksal, das
fast alle Bauwerke in Marokko betroffen hat, wenn ihre Erbauer und Schützer nicht mehr lebten.
Weiter geht es in Richtung Kasbah des Oudaias. Eine beeindruckende Toranlage erhebt sich vor uns. Es ist alles dran: „eines der schönsten Beispiele der almohadischen Portalarchitektur“, wie es im Reiseführer heißt.Es ist wirklich wunderschön, auch ohne Erklärung. Gestaltet als gekielter Hufeisenbogen, geschmückt mit Blendarkaden und verschlungener Flächenmusterung wirkt das Tor kaum als Eingang zu einer Festung. Wir fotografieren: die Totale in mehreren Variationen, die Details im Einzelnen und
im Besonderen und machen uns gegenseitig auf die Elemente aufmerksam, die uns faszinieren und gleichzeitig so fremd anmuten.
Durch eine neu ausgebrochene Türe betreten wir die dazugehörende Kasbah des Oidaisas. Und plötzlich erinnert mich alles an Griechenland und seine kleinen Inseldörfer. Alles passt zusammen: die Architektur der kleinen Häuser, wenn man hier über Architektur im eigentlichen Sinn überhaupt sprechen kann. Meist sind es würfelförmige Bauten, weiß und blau gestrichen, die links und rechts die schmale Straße säumen.
Dazwischen führen enge Steintreppen in die „oberen Etagen“ der Kasbah – auch wieder weiß angemalt - zu wunderschönen „ungriechischen“ Portalen, die mit sorgfältig gezimmerten und geschmückten Toren verschlossen sind. Marokko das Land der großartigen Portale! Eingangsräume, die das Paradies versprechen! |
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Es fehlen auch nicht die kleinen Geschäfte und Buden, wo alles zu haben ist, was der Mensch zum Leben braucht. Eine Gruppe von Buben spielt sehr ernst und eifrig ein Steinchenspiel neben einer Mülltonne. Allerdings berührt uns etwas seltsam und fremdartig, dass einige Bündel Heu direkt neben der Straße liegen und auf Käufer warten. Eselfutter mitten in der Stadt? In Griechenland gibt es Esel nur am Land, auf den Feldern oder neben den Bauernhöfen – Esel in der Stadt? Nein, die gibt es dort nicht! Langsam und fast gemütlich, verlassen wir den Bereich der Kasbah und steigen die Stufen einer mächtigen aber langsam abbröckelnden Wehranlage hinunter, Richtung Flussmündung.
Die Anlage stamme aus einer vorübergehenden englischen Besatzungszeit, so erfahren wir von unserem Reiseleiter und wenden uns nach Süden. Jetzt wandern wir einer interessant gestalteten Mauer entlang, die einen der berühmten Friedhöfe in Rabat umschließt. Es sind meist ungeordnete Felder, die Friedhöfe hier, wo schmale Steinstelen die Gräber markieren; aber selten mit ausführlicher Beschriftung, wie wir es gewohnt sind. Draußen am Land gibt es kaum mehr die aufgerichteten Steine – dort sind es bloße Felsbrocken die deutlich machen, dass hier einmal ein Mensch begraben wurde....
Mit dem Bus geht es dann weiter zur Gegenwart. Wir stehen in angemessener Entfernung vorm Königspalast und dürfen bewundern: Die prächtige Toranlage, die in einer Kombination des almoravidischen-almohadischen-meridischen Stils im 20. Jh. errichtet wurde. Bei näherer Betrachtung finden sich an den repräsentativen Neubauten viele bekannte Stilelemente von früher, die von den marokkanischen Handwerkern mit großem Geschick nachempfunden und gestaltet wurden. Auch hier wird wieder restauriert. In gelbe Overalls gekleidet, bemühen sich Maler mit Pinsel und Farbe um die Wände rechts von der Toranlage.
Im Tor selbst stehen Uniformierte; in Jellabahs gekleidete Beamte gehen aus und ein. Einer begegnete uns schon am Weg hierher, und zwar mit Frau und Kind. Er war in eine weiße Jellabah gekleidet und trug gelbe Pantoffeln. Ich weiß nicht, was mich an den Pantoffeln so sehr stört! Vielleicht die Tatsache, dass sie in unseren kalten Breiten so eindeutig eine intime häusliche Fußbekleidung darstellen? Später werfen wir einen Blick auf den Fuhrpark des Königspalastes: beeindruckend, was Umfang und Marken betrifft! Zuletzt dürfen wir noch - wieder in entsprechender Entfernung - das Eingangsportal des Thronsaales bewundern, wo bei hochoffiziellen Anlässen der König empfängt.
Obwohl man sich zweifellos viel Mühe gibt, ist die Grünanlage rund um den Palast ein bisschen dürftig ausgefallen. Die Hitze des Sommers macht hier den Pflanzen das Leben sicher sehr mühsam und beschwerlich. Offensichtlich können unter diesen Bedingungen - trotz intensiver Pflege - auch nur bestimmte Gewächse überleben.
Am Rückweg durchqueren wir ein Villenviertel von Rabat. Die Luft ist weich und angenehm. Weite und Helligkeit umfängt uns. Es fühlt sich gut an hier zu sein! Erst später wird mir bewusst, dass es dort kaum Verkehr, keine Leute, keine Infrastruktur im allgemeinen Sinn gab – sondern nur Häuser für abgeschlossenes familiäres Leben.
Zu Mittag finden wir uns in einem etwas schäbig wirkenden Restaurant wieder. Doch ist man im Augenblick offensichtlich darum bemüht, die verblichene Eleganz den neuen und modernen Ansprüchen anzupassen. Denn nur so ist zu verstehen, dass während unserer Mittagsrast ein Deckenbalken im Nebenraum entfernt wird, und zwar mit entsprechendem Lärm und Staub. Doch gab es trotz Renovierungsarbeiten exzellente Speisen. Der lächelnde Restaurantbesitzer verstand unsere Wünsche „aufs Wort“ und unser Reiseleiter konnte in Ruhe mit seinem und unserem Chauffeur zusammensitzen und plaudern.
Später brachte uns der Bus zur berühmten Chellah von Rabat. Schon von weitem beeindruckt uns der gewaltige Bau. Eine steil aufragende Mauer mit mächtigen Zinnen, die in „Berbermanier“ in Verschalungen „hinaufgegossen“ wurden, umgibt das Terrain. Doch noch beeindruckender erleben wir beim Näherkommen die Toranlage. Sie ist eine Steinkonstruktion – ganz auf Verteidigung ausgerichtet, monumental, abwehrend und gleichzeitig anziehend durch die ungewöhnlich schöne ornamentale Gestaltung.
Das Portal wird durch zwei oktogonale Flankentürme, die im oberen Bereich mittels Eckunterstützungen in eine quadratische Plattform übergehen, gebildet und ist aus Haustein errichtet. Der in traditioneller Manier seitlich versetzte Durchgang ist mit Kreuzgratgewölben aus Ziegelstein überdeckt--- Die Portalzone zeigt im Anschluss an den innen undekorierten Hufeisenbogen das bereits bekannte Ornament sich mehrfach überschneidender Blendbögen, hier drei an der Zahl...Ein weites Band von Lambrequinbögen schließt sich an. Die oberen seitlichen Zwickel enthalten Rankenwerk und die obligatorische Muschel. So lesen wir im Reiseführer --und dass es innen durch eine gepflegte Gartenanlage geht, die zur Römersiedlung führt – lässt sich auch noch nachlesen. Doch ab jetzt vertrauen wir wieder mehr unserer eigenen Reiseerfahrung, die uns schon zu vielen römischen Ausgrabungen geführt hat. Sie liegen malerisch da, die Reste aus den frühen Jahrhunderten – noch nicht als Spolien eingebaut und verschwunden in späteren Gebäuden – d.h. dass man sie erst in unserer Zeit entdeckt und ausgegraben hat. Noch aus der Ferne erkennt man die zum ehemaligen Hafen abfallende Hauptachse der Stadt, die einst von Läden gesäumt und wie so oft in römischen Städten, in einem Triumphbogen auslief. Doch jetzt sind nur die Fundamente übrig – zu viel um achtlos vorbeizugehen, zu wenig, um sich daran wirklich zu freuen...
Wir gehen weiter in Richtung Nekropole – zu dem heiligen Teich der Aale, den ich mir wesentlich sauberer und beeindruckender vorgestellt habe. Ein riesiges „Rudel“ von Katzen treibt sich um den kloakenähnliche Wassertümpel herum. Nikolaus, einer meiner Reisegefährten, kauft in Erfüllung seiner Reisepflichten ein gekochtes Ei, um die Aale zu füttern – was im Gegenzug für den „Fütterer“ getan wird, das habe ich leider vergessen. Aber ich glaube, dass es u.a. auch Reichtum ist, was die Aale schenken können...
Währenddessen konzentriere ich mich auf die einheimischen Besucher. Ich bemerke ein Pärchen das heftig miteinander „diskutiert“ – d.h. sie redet auf ihn ein – er runzelt die Stirn – sie redet weiter auf ihn ein. Ich verstehe nichts und doch scheine ich alles zu verstehen. Auch ein etwas älteres Paar fällt mir auf. Besuchen sie die Sehenswürdigkeit oder den Heiligen Ort? Auf jeden Fall folgen sie der Aal – Zeremonie mit großem Interesse. Dann geht es weiter in das Innere der Umfriedung, wo sich dachlose aber wunderschöne Räume, Überreste der kleinen Moschee des Youssouf Yakoub aus dem 13. Jahrhundert eröffnen. Das Minarett steht noch und ist von einem Storchennest gekrönt. Am Boden eingelassen das Grab von Abou el Hassan (14.Jh), das mit einem schönen Stalaktitenaufsatz verziert ist. In seiner Nähe liegen die einfachen Gräber seiner Ehefrauen.
Was in den Reiseführern allerdings fehlt, ist der Hinweis auf die Ostmauer der Moschee, die in sehr schlichter und harmonischer Weise ornamentiert ist, die den Betrachter unmittelbar berührt --- hier war ein Künstler am Werk, der sich selbst in den Stein hinein gehauen hat.
Neben der Moschee finden sich noch Reste der ehemaligen merinidischen Medersa (Koranschule). Im Zentrum gibt es ein großes Brunnenbecken, in den Zellen rund um den Innenhof finden sich noch gut erhaltenen Kachelböden. Auch die dazu gehörigen Toilettenanlagen verdienen Beachtung, weil sie den Jahrhunderten so tapfer standgehalten haben. Als es Zeit wird den Rückweg anzutreten, fallen uns die Heiligengräber der Umgebung erst so richtig auf. Es sind zumeist würfelförmige Gebäude: Einige mit Kuppeln überwölbt, andere flach gedeckt. Die Türen zum Inneren sind allerdings immer zugesperrt.
Eigentlich sind alle Gebäude hier verschlossen: Vor allem für uns verschlossen. Nur wenn sie Jahrhunderte alt sind oder bereits Ruinen, dann dürfen wir hinein. Wir wandern, nein, schlendern zurück zur Toranlage. Links und rechts wuchern verschiedene Bäume und Sträucher und es duftet nach Frühling – es ist ein schöner Spätnachmittag – die Luft ist klar und warm -hier ist es gut sein... ein Platz, um zu verweilen... Später dürfen wir noch das Tor der Winde fotografieren. Es ist vergleichsweise schlicht gehalten und nach Baedeker das schönste Tor der Almohadenmauer. Zudem bildet es den Eingang zu dahinter liegenden Ausstellungsräumen für zeitgenössische Kunst --- Worin diese besteht? Wäre interessant zu wissen... Wir aber sind Reisende mit vollem Programm und müssen weiter--
ist der Korkeichenwald des Landes... Während der Fahrt durch den Wald liest uns der Reiseleiter die Problematik des Korkwaldsterbens vor – es sind vielfältige Einflüsse, die auch diesen Wald zum Sterben verurteilen. Unter anderem sind es die unkundigen „Korkschäler“, die zu früh oder zu ungenau oder einfach schlecht die Korkrinde abnehmen. Spezialisten werden immer seltener und die es gibt, bekommen wenig bezahlt, wie überall...
Wie bei unseren Wäldern, trägt auch hier der Mensch die Hauptlast der Verantwortung für das Waldsterben: durch Überweidung, Brennholz-Raubbau, Veränderung des Grundwasserspiegels, ect... Interessant und neu für mich war die Tatsache, dass eine Korkeiche erst nach acht Jahren das erstemal geschält werden darf!
Einmal dürfen wir aussteigen, aber erst nach einiger Zeit, nachdem wir den Platz wieder verlassen mussten, wo der König am späten Nachmittag spazieren zu gehen pflegt. Ein bisschen seltsam berührt mich schon die Selbstverständlichkeit, womit solche Aktionen stattfinden. Ich glaube, dass es den Leuten in Marokko nicht einmal auffällt, dass selbst Wälder und öffentliche Plätze gleichsam „unberührbar“ werden, wenn der König geruht zu erscheinen. Oder, so denke ich, sind es nicht eher wir, die mit ungewöhnlichen Erfahrungen heranreisen und urteilen? Sind wir es nicht, die in einer völlig seltsamen Staatsform leben, wo niemand längerfristig politische Verantwortung tragen muss? Viele Fragen gehen mir durch den Kopf – da drinnen in der rollenden Raumkapsel, die uns kaum Gelegenheit gibt, mit den Menschen wirklich in Kontakt - wenn auch nur durch Blicke und Gesten - zu kommen. Doch das ist der Preis für die Reise von einer Sehenswürdigkeit zur anderen...
Wir fahren weiter und kommen am Abend nach Meknes. Meknes war auch Königsstadt, aber nur relativ kurze Zeit – dennoch hat diese begrenzte Epoche der Stadt ihren architektonischen Stempel aufgedrückt. Bereits im 10.Jh. hatten Berberstämme der Meknassa ihr Nomadenleben im Süden des Landes aufgegeben und sich in der fruchtbaren Ebene des Nordens niedergelassen. Im Jahr 1063 ließ der Almoravidenführer Youssouf Ben Tachfin eine erste Festung errichten, die von den Almohaden unter Abd el Moumen 1145 zerstört wurde. Unter seiner Regierung entstand eine neue Stadtanlage mit quadratischem Umriss, die später eine gewisse Bedeutung erlangte. (Die noch erhaltene Medersa Bou Inania erinnert an diese Zeit) In den Wirren der folgenden Jahrhunderte mit ihren Rebellionen und Plünderungen der Berber verlor Meknes jedwede Bedeutung und verfiel einer Agonie, aus der sie erst gegen Ende des 17.Jh. von Moulay Ismail, dem zweiten Herrscher der Alaouiten, herausgerissen wurde. Er brauchte für seine Pläne Platz und den gab es in Fes und Marrakesch nicht. Mit der Arbeitskraft von 30 000 Sklaven und dem „Know how“ von 3000 christlichen Gefangenen wollte er ein Zentrum schaffen, das seinen imperialen Plänen würdigen Ausdruck verleihen sollte. Eine 40 km lange Stadtmauer wurde geplant und gebaut, die Paläste und Gärten, Moscheen, Stallungen und Speicher umfassen sollte. Für die künstlerische Ausstattung der Bauwerke bediente man sich u.a. an den Spolien von Volubilis, für die Lösung schwieriger architektonischer Fragen mussten die christlichen Gefangenen sorgen. Trotz immenser Kraftanstrengung aller Beteiligten, war das gewaltige Vorhaben nach dem Tod Moulay Ismails noch lange nicht abgeschlossen. Da aber Söhne übermächtiger Väter nur in den seltensten Fällen ihre Werke fortsetzen – bedeutet der Tod von Moulay Ismails auch das Aus für die Bautätigkeit. Fes wurde von den Söhnen wieder zur Hauptstadt gewählt und die Bauwerke von Meknes – so wie es hier zu Lande Brauch ist - zu Steinbrüchen degradiert.
Dennoch beeindrucken noch heute die Überreste der damaligen Architektur und ich frage mich: Warum müssen die Mächtigen aller Zeiten so gewaltige Denkmäler in Angriff nehmen? Sicherlich ist die Antwort schnell und leicht gegeben: weil sie über ihren Tod hinaus ihre Macht demonstrieren wollten! Aber warum? Genügte ihnen nicht die Macht, die sie in ihrem irdischen Leben zweifellos hatten? Oder waren sie sich ihrer Macht gar nicht so sicher, wie wir heute annehmen? Mussten sie sich durch Stein und Mauer „beweisen“, dass ihre Macht tatsächlich Wirkung hat – nämlich für sie selber reflektorisch sichtbar? Waren sie vielleicht in der Tiefe ihres Inneren ihrer selbst gar nicht so sicher – und ihre geschichtliche Bedeutung letztendlich nur eine Folge von tiefer liegenden Zweifel, die in einer politisch rationalen Weise kompensiert wurde? Reisen bildet! sagt ein alter Spruch --- Reisen wirft aber immer mehr Fragen auf, als beantwortet werden können und das ist gut so...
Mit dem Bus werden wir zunächst auf einen riesigen Platz geführt, wo wir aussteigen. Vor uns eine gewaltige Toranlage, Bab Mansour, die 1732 und erst nach dem Tod von Moulay Ismail vollendet wurde. Es sei die imposanteste, wenngleich nicht unbedingt schönste Toranlage Marokkos ...so lesen wir im Führer und es stimmt....
Von einem christlichen Architekten geplant und mit mächtigen Säulen und Kapitellen aus Volubilis geschmückt, amt es mit seiner scheinbaren Dreiportaligkeit als einziges der älteren Stadttore Marokkos, das Motiv eines klassischen römischen Triumphbogen nach. Während die beiden äußeren, leicht vortretenden Scheinportale von der an der Spitze abgerundeten Hufeisenbögen überwölbt sind, ist der Bogen des großen Mittelportals, im Scheitelbogen leicht zugespitzt. Die Bauzier mit ihrem sich aus kleinen Blendarkaden entwickelnden Rautengeflecht, in das farbige Kacheln und Kachelmosaike eingelegt sind, ist zwar optisch beeindruckend, lässt aber dennoch im Vergleich zu den almohadischen Vorbildern eine gewisse Variationsbreite in den Einzelformen vermissen, da Muschelmotive, Inschriftenbänder sowie eingestellte Säulen und Konsolen fehlen..
Damit wäre alles gesagt oder doch nicht? Und wo ist zu lesen, dass die Gesamtanlage einfach in den Größenverhältnissen nicht stimmt – nicht stimmen kann, weil ein Triumphbogen eine völlig andere Funktion hat, als eine Toranlage? Wo bleibt das Gefühl für die Relationen, das bei
den älteren Toranlagen so wundervolle Wirkungen hervorbrachte? Doch sei es, wie es sei! Prachtvoll und überwältigend ist es das Tor trotzdem! Aber ein Künstler wie seine nordischen Kollegen der Barockzeit war er sicher nicht, der zum Islam bekehrte christliche Designer des Tores – Oder hat man ihm schon von Anfang an in die Pläne hineingeredet, um der Gigantomanie des Herrschers Genüge zu tun?
Doch noch warten andere Werke von Moulay Ismail auf uns und harren der Bewunderung. Es ist auch zu bewundern das riesige Bassin de l`Agdal: vier Hektar groß, dient es zur Bewässerung der Gartenanlagen, die heute - wie sinnig - zu einem Golfplatz umgestaltet sind. Wenn man in Betracht zieht, welche Bedeutung dem Wasser in Marokko zukommt, dann erstaunt man einmal mehr über den Weitblick von Moulay Ismail. Da wir die eigentlichen Palastanlagen aus seiner Zeit nicht besichtigen dürfen, weil sie in Bereiche integriert sind, die vom König bewohnt sind, bleibt uns nur mehr der Besuch der Getreidespeicher und der Stallungen des Herrschers. Bedingt durch die Zeit und die Zerstörungen der Erdbeben fehlen in weiten Teilen der Anlage die Tonnengewölbe. Die Bauwerke, die aber noch vorhanden sind, nehmen uns den Atem. So große Räume, so ausgedehnte und großzügig geplante Raumfluchten habe ich niemals vorher gesehen. Gewiss erreichen die Thermenbauten der Römer manchmal die Höhe und Saalgröße der Ismail-Bauten, aber niemals diese Ausdehnung.
Ich möchte stundenlang hier herumstreunen. Möchte die Bauten auf mich wirken lassen, wo die Überdachungen fehlen und grüne Rankenpflanzen über die Mauern
herabwehen. Möchte den romantischen Kontrast bewundern, der sich aus dem hellen abbröckelnden Mauerwerk und dem strahlend blauen Himmel ergibt. Ja, ich weiß, zu anderen Zeiten war es nicht gut, hier zu sein – aber ist es nicht auch tröstlich, dass die martialischen Bauten der Vorzeit heute einen Zauber entwickeln können, der sie ihrer dunklen Vergangenheit entzieht? Allerdings gilt das nicht für Gefängnisse und Blutgerüste --Die Gefängnisse von Meknes sind ein eigenes Thema --- man will gar nicht genau hinschauen auf den Platz, wo aus dem Inneren des Ismail-Baus die Luftlöcher münden und mit modernen Gitterverschalungen geschützt sind. Was sich unter dem großen seltsamen Areal damals abgespielt hat, das möchte ich gar nicht wissen und Das Thema „Koranschule“ wird von unserem Reiseleiter unterwegs mehrmals angesprochen und langsam bin ich gespannt, wohin er uns führen wird. Die Ruine der Koranschule, die wir in Rabat gesehen haben, war ja nicht gerade beindruckend. Umso mehr überrascht uns das wunderbare Bauwerk, das sich Medersa Bou Inania nennt. Jetzt hätte ich gern die Fähigkeiten eines Dichters, um dieses eindrucksvolle Gebäude zu beschreiben! Natürlich haben wir wie die Wilden fotografiert und jeder von uns hat Gesamt-und Detailaufnahmen bereit — doch werden unsere Fotos die Schönheit dieses Raumes auch nur annähernd wiedergeben können?
Woran liegt es, dass dieser Raum so wunderbar ist? Sind es die harmonischen Größenverhältnisse? Ist es das faszinierende Zusammenspiel von bunten Keramikmosaiken, Schriftzeichenbänder, Zinnen – und Lebensbaumfriese? Ist es die überreiche weiße Stuckdekoration, die aus zerriebenem Marmor und Alabastergestein besteht, einer Masse, die mit Kalkmörtel und Leim gebunden und schließlich mit feinen Spachteln und Sticheln ornamentiert wurde? Sind es die dunklen Holzverschalungen, die mit reichen und üppigen Schnitzereien geschmückt sind? Ist es das feine Kuppelgewölbe, das den ganzen Innenraum zu einem ästhetischen Ganzen zusammenfügt? Es ist alles in allem und doch ist jede Einzelheit so faszinierend, dass man nur bewundernd davor stehen kann. Ein letzter Blick, eine leise Abschiedsberührung für das Spinnenmuster bei der Eingangstüre und wir verlassen diesen wunderschönen Raum.
Wieder durchwandern wir kleine Gassen und überqueren freundliche Plätze, bis wir vor einem sehr hell und leicht gestalteten Gebäude stehen, einem ehemaligen Wesirpalast, der Ende des 19.Jhs. erbaut wurde. Jetzt ist ein kleines Volkskundemuseum, namens Dar Jamai, darin untergebracht Und es lohnt sich die kleinen Gegenstände anzuschauen, die hier zusammengetragen wurden. Es gibt Keramik und Metallarbeiten, Holzschnitzereien, alte Koranhandschriften, Teppiche und Kelims zu sehen, einige Beispiele für die heimische Web- und Stickereikunst, sowie Silber- und Lederarbeiten. Besonders beeindruckend ein Sattel, verziert mit Silbertreibarbeiten – einfach ein Prachtstück. Ähnliches ließe sich auch über die Einrichtung der Repräsentationszimmer im ersten Stock des Museums sagen: von den schlichten Formen der Luster, den wertvollen Teppichen, den stoffbespannten Wandsofas, der bunten Farbenpracht der das gesamte Ambiente beherrscht – hier wird uns wieder einmal mehr bewusst, dass die Reichen dieser Welt immer in Schönheit und Luxus zu leben wussten.
Zu Mittag landen wir in einem schön und frei gelegenen Restaurant gegenüber der Stadt Moulay Idris. Wir sitzen auf der Terrasse – die Sonne wärmt uns, der Himmel ist heiter und klar – und wir warten auf das Essen. Die Situation ist entspannt; obwohl unser Führer wieder einmal nervig herumfuhrwerkt – wir lassen uns aber nicht aus der Ruhe bringen.
Ich esse Cous Cous, ein Gericht, dass ich nur aus der französischen Chansonszene kenne. Es ist gut und viel, was uns hier in glasierten Tonschüsseln gereicht wird. Der Tee aus grünen Minzeblättern, der uns schon einige Zeit begleitet, wird uns immer vertrauter – ein ganz kleiner Anknüpfungspunkt an die Gewohnheiten des Landes, das wir leider in viel zu großer Distanz durchreisen.
Nach dem Essen geht es hinüber zur Stadt Moulay Idris. Der Gründer der Stadt war der Cherif Idris Ben Abdallah, der das größte islamische Reich auf marokkanischem
Boden errichtete. Nach der Schlacht von Fakh bei Mekka (786) war er nach dem Westen geflohen und hatte in den Ruinen von Volubilis Zuflucht gesucht, wo er die Berberstämme der Auraba um sich scharte und sie zum Islam bekehrte. Danach begann er das zersplitterte Land zu einer neuen Einheit zu führen, deren Zentrum in der fruchtbaren Ebene liegen sollte – so gründete er Fes. Doch Harun al Rachid ließ den unbequemen neuen Herrscher im Jahr 791 oder 792 vergiften Die Verehrung von Moulay Idris und seinem Grab begann im 14 Jh wo in
stattfindenden Moussem gilt vielen als Ersatz für eine Pilgerreise nach Mekka.
Lange galt Moulay Idris als verbotene Stadt, nur von Charles de Foucault wissen wir, dass er Ende des 19.Jhs. in jüdischer Verkleidung in die Stadt gelangte. Damals wie heute liegt die Stadt malerisch hingebreitet, wie auf den Höckern von zwei Kamelen. Weiße würfelförmige Häuser bedecken die Hänge der grünen, mit Macchia bewachsenen Hügeln, während dahinter gleichsam als „Bilderrahmen“ das Zerhoun-Massiv aufragt. Da sich die Stadt nur zu Fuß besichtigen lässt, steigen wir über kurze Treppen und kleine verwinkelte, saubere Straßen bergauf. Die Leute, die uns begegnen wirken sehr ernst und verschlossen, auch die jungen. Ist es die Atmosphäre des Heiligen Ortes, der ihre Gesichter versteinert, oder die Last der vielen Fremden, die sie zu ihrer distanzierten Haltung zwingt? Später lese ich, dass Moulay Idris das Ziel besonders strenggläubiger Pilger ist. Auch leben hier zahlreiche tiefreligiöse Idrissiden-, Alaouiten- und andere anerkannte Chorfa, die als Nachfahren des Propheten gelten; womit meine Vermutung noch nachträglich bestätigt wurde. Pflichtgemäß bewundern wir unterwegs das einzige zylindrische Minarett von ganz Marokko, das mit weißen und grünen Kacheln dekoriert ist und als besondere Sehenswürdigkeit im Reiseführer beschrieben wird. Doch lohnt sich der Aufstieg, der mich so nachdenklich machte, schließlich auf ganz besonderer Weise. Von der Höhe einer kleinen Aussichtsterrasse eröffnet sich ein wunderbarer Blick. Vor uns die Stadt, die sich wie ein weißer grober Teppich
entrollt: mitten drinnen die grünen Dächer der Zaouia, dahinter ausgebreitet das grüne Kroumane-Tal und das Ganze umrahmt vom Zerhoun-Massiv. Es ist warm und anheimelnd hier oben – ein Platz zum Verweilen und Schauen... Später steigen wir durch einige schmale Gässchen hinunter in Richtung Zaouia, wie der gesamte Grabmoschee Komplex genannt wird, die sich zwischen den beiden Stadthügeln erstreckt. Die ursprünglich bescheidene Grabanlage wurde um 1700 von Moulay Ismail im hispano-maurischen Sakralbaustil ausgebaut. Links vom prächtig geschmückten Haupteingang liegt ein schöner Zellijes Brunnen, dessen Wandfläche einem maurischen Bogentor nachgebildet ist. Ein Sperrbalken markiert den Beginn des „verbotenen Bezirkes.“ Von hier aus sieht man, wie ein langer Gang zum Bogentor der ausgedehnten Zaouia führt. Eine schwarzgekleidete Frau kommt uns daraus entgegen und ich bin traurig, weil wir wieder draußen bleiben müssen. Und ich frage mich, was mit der islamischen Religion in Marokko auf sich hat? Warum diese Verbote? Was steckt wirklich dahinter? Ist Allah nicht auch der Gott der Juden und der Christen? Wir durchqueren den heiligen Bezirk auf der einzigen „öffentlichen“ Strasse und kommen am Hauptplatz heraus, der mit seinen Läden voll Devotionalien, Süßigkeiten und fremdartigen Leckereien ähnlich anmutet wie die nähere Umgebung von Pilgerstätten überall. Hier wird offenbar, was sich immer mit dem Heiligen verbindet, gleichsam die dunkle Seite repräsentiert: Geschäfte und Geld. Mir wird etwas schwindlig von den vielen Leuten hier, der Bewegung und den vielfältigen Eindrücken. Ich kann das Neue nicht ganz erfassen, bin mit dem vorher Erlebten noch beschäftigt
Weiter geht es nun nach Volubilis, der alten Römersiedlung. Hier können wir uns entspannen. Hier betreten wir bekanntes Terrain. Vertraut und klar einzuordnen ist das, was uns hier erwartet. Die Politik einer Großmacht, die dorthin, wo römische Soldaten ihren Fuß hinsetzten, ihren Lebensstil exportierte, erlaubt uns die Landhäuser von Volubilis mit derselben Selbstverständlichkeit zu betreten, wie Carnuntum.
Es fehlen hier nur die ausgefeilten Heizungssysteme der nördlichen Regionen, weil entsprechende Temperaturen diese Einrichtung überflüssig machten. Auch bemühten sich die Archäologen bisher vergeblich Spuren von Amphitheatern zu entdecken. Also gab es hier ein römisches Leben ohne Spaß und Show? Befremdlich oder doch nicht? War das Leben in den Weiten Nordafrikas vielleicht doch ein bisschen ernster zu nehmen, als in den übrigen besetzten Gebieten? Diese Stadt gilt als besonderes Juwel unter den Römerstädten; gegründet im 1. Jh. v. Chr. und bereits im 3. Jh. n. Chr. wieder aufgegeben, weil die Bewohner auf diesem vorgeschobenen Posten den Überfällen der Berberstämme nicht mehr standhalten konnten. Später wurde die Stadt von vaszierenden Stämmen als Notunterkunft benutzt, dem Verfall preisgegeben und im 17.Jh. von Moulay Ismail als Steinbruch benutzt. Das Erdbeben von Lissabon erschütterte die letzten aufrecht stehenden Gebäudeteile und ließ sie zusammenfallen. Anfang des 20. Jh. begann die mühevolle archäologische Arbeit, die zu einem bewundernswerten Ergebnis geführt hat.
Was wäre noch über Volubilis zu berichten? Im Wesentlichen sind die Ausgrabungen in den verschiedenen Reiseführern genau und inhaltsreich dokumentiert. Man erfährt viel über die Anlage der großen Villen, deren Namen von den gut erhaltenen Mosaiken abgeleitet werden. Darüber hinaus sind die Häuser und die fehlende Kanalisation der armen Bevölkerung beschrieben, wo oft ganze Familien nur über ein einzigen Raum verfügten... Allzu Bekanntes? Ja und Nein, weil die Atmosphäre des Ortes nicht mit archäologischen Fachvokabeln eingefangen werden kann. Dasselbe gilt auch für die verschiedenen Mosaike, die sich trotz genauer Beschreibung dem Betrachter ganz anders präsentieren können, als es dem geschulten Archäologenauge möglich erscheint.
Ich z.B. sehe im Mosaik der Zwölf Arbeiten des Herkules nicht die schlechte Restaurierung, sondern freue mich, dass ich noch einige Arbeiten genau erkennen und einordnen kann. Das Mosaik des Kunstreiters bleibt für mich fremd und seltsam, obwohl das Rankenwerk um das ganze Bild von hoher Qualität ist. Beschreibung und persönlicher Eindruck treffen sich allerdings bei einigen anderen Mosaiken:
z.B. den Delphinen, der Diana im Bade, der Ariadne ...
Stellenweise gibt es noch die alte Pflasterung; auch finden sich wunderschöne Säulenfragmente, die schon zur Römerzeit das handwerkliche Können der Maghrebbewohner unter Beweis stellen – oder wurden sie schlichtweg importiert und auf Eselsrücken über weite Entfernungen gekarrt? Diese Frage müsste allerdings an die Archäologen zurückgespielt werden, die hier wirklich ganze Arbeit geleistet haben.
Insgesamt fasziniert Volubilis durch die Kompaktheit der Anlage, die noch sehr deutlich die ursprüngliche Gestalt der Stadt erkennen lässt. Sehr bedeutsam für diesen Eindruck scheint mir zudem die Wiedererrichtung des Triumphbogens, der dem Kaiser Caracalla gewidmet ist und das große Stück der restaurierten Basilikamauer, wodurch die architektonische Atmosphäre der Stadt wesentlich mitbestimmt wird.
Oben auf den Treppenstufen der Tempelanlage wird mir wieder einmal klar, mit welchem Einfühlungsvermögen in der Antike Plätze und Orte gewählt wurden, um die Bedeutung von wichtigen Bauwerken zu erhöhen. Öffentliche Gebäude werden mit einer bewundernswerten Sicherheit genau dort hingebaut, wo sie die Erwartungen der Priester oder des Herrschers optimal erfüllen. Die Tempelanlage in Volubilis z. B. lässt den Blick ungehindert in die grünen Flächen der zentralmarokkanischen Ebene eintauchen – begrenzt ihn durch die mächtige Anlage des ehemaligen Forums – und lässt ihn wieder schweifen, hinüber zu den Hügeln von Moulay Idris. Weite der Natur und faszinierendes Werk aus Menschenhand verbinden sich dadurch zu einem Ganzen, das von den Göttern kommt und zu ihnen zurückführt.
Auf der Tempelplattform tummeln sich viele Leute, machen Lärm und es ist gut wieder hinunter zu steigen. Doch bevor wir das weitläufige Gelände verlassen, haben uns die „archäologischen Handwerker“ ganz im Sinne derMuseumspädagogik, eine funktionstüchtige Ölpresse aufgebaut. Nett das Ganze! Mich fasziniert aber etwas Anderes viel, viel mehr: die aus dem Geröll geborgenen Säulenkapitelle aus vorrömischer Zeit. Die Einfachheit und Klarheit der Ornamentik spricht eine Sprache, die in die Zeiten des Paradieses zurückreichen könnte oder habe ich als Kind eines übersättigten Jahrhunderts nur so große Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit?
FES
Schon der Name der Stadt ist Programm: bereits der erste morgendliche Blick über die Stadt von einem erhöhten Punkt der französischen „Neustadt“ aus, fesselt und fasziniert. Ein Häusermeer erstreckt sich vor uns, aber ohne die moderne Wucherungen von Neubauten: eine Teppichlandschaft von Häusern, worin grüne Dächer eingesprenkelt sind als Zeichen der Gegenwart Allahs und des Königs, der über seine Untertanen wacht und seine schützenden Hände hält... Vor uns und quer über das malerische Bild gelegt: das Tal des Oued Fes – eines Flusses, den die Umweltaktivisten schon seit Jahrhunderten „schützen“ müssten, weil er zum Hauptkanal der Abwässer degradiert wurde – aber hier scheint das niemand zu kümmern. Noch sehen wir nichts von den Problemen der Stadt, noch liegt sie malerisch unter uns. Und als wir später über das Tal hinüberfahren schließe ich die Augen, um das Umweltdesaster nicht wahrnehmen zu müssen.
Entsprechend ihrer geschichtlichen Entwicklung gliedert sich Fès heute in drei Stadtteile: Fès el Bali, Fès el Jdid und die Ville Nouvelle. Gegründet wurde die Stadt der Überlieferung nach, von Moulay Idris I. Als er 792 starb, war Fès aber nur ein kleines Dorf. Sein Sohn Moulay Idris II, machte Fès zu seiner Hauptstadt, wo sich in der ersten Hälfte des 10.Jh. Flüchtlinge aus dem andalusischen Cordoba und dem tunesischen Kairouan ansiedelten. Sie errichteten separate Siedlungen, die durch eine Mauer entlang des Flusses voneinander getrennt waren. Um 860 entstand die Moschee El Kairaouine als
Zentrum der heute noch bestehenden gleichnamigen Universität. Unter der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden wurde zwar Marrakesch Hauptstadt und politisches Zentrum, aber auf den Gebieten von Religion, Wissenschaft, Kunst, Handwerk und dem Handel behielt Fès seine Bedeutung bei. Ihre Blütezeit erlebte Fès unter den Meriniden, die 1248 die Stadt eroberten und sie wieder zur Hauptstadt machten. Dieser Zeit verdankt sie viele wichtige und prächtige Bauten, u.a. den Königspalast und das Fès el Jedid (das neue Fès). Die Meriniden vergrößerten die Kairaouine-Moschee und schmückten sie aus – ließen viele Foundouks (Herbergen), Badehäuser und Medersen bauen. Für die aus Andalusien im 14.Jh. zugezogenen Juden, aber auch für die bereits ansässigen, gründeten sie die Mellah der Stadt. Vieles, was heute den Glanz und den Zauber von Fès ausmacht, stammt aus dieser Zeit. Erst mit dem langsamen Niedergang der Meriniden begann auch der Verfall ihrer Hauptstadt. Im Jahre 1548 wurde Fès von den Saaditen erobert, die wiederum Marrakesch bevorzugten und es 1554 zu ihrer Hauptstadt machten. Die Saaditen wurden schließlich von den Alaouiten abgelöst, die 1667, unter Moulay Rachid die Stadt Fès eroberten und ihr den Rang einer Hauptstadt wiedergaben. Mit Ausnahme der Regierungszeit von Moulay Ismael (1672-1727), der Meknès aus Platzgründen favorisierte, blieb Fès Reichshauptstadt bis 1912. Die Schäden an der Stadtarchitektur - entstanden durch Aufstände und Belagerungen - wurden von den siegreichen Sultanen immer wieder behoben.
Es entstanden auch neue Bauten, aber als bloße Zitate von früheren und ohne Einsatz von neuen Ideen. Dadurch blieb die Stadtanlage lange Zeit unverändert erhalten. Erst 1873 veränderte sich das Gesicht der Stadt, als mit Moulay el Hassan die Bebauung des Geländes zwischen Fès el Bali und Fès el Jdid einsetzte, womit die ehemals getrennten Stadtteile verbunden wurden. Obwohl sich Fès ab 1916 durch die Errichtung der Ville Nouvelle unter den Franzosen vergrößerte, verlor es seine politische Bedeutung an die neue Hauptstadt Rabat und die wirtschaftliche an Casablanca.
Doch bevor wir in das Leben der Altstadt hineinwandern dürfen, steht der Besuch einer Töpferei am Programm. Noch bevor wir die Anlage betreten, stolpern wir über riesige Mengen von Olivenmaische – das Feuerungsmaterial für die Brennöfen, wie wir später erfahren werden. Während uns ein etwas hilflos wirkender junger Mann in Empfang nimmt, hören wir unser bekanntes „Kommen Sie! Kommen Sie!“ von unserem Führer, der uns über Flächen von trocknenden Töpferwaren hin zu einer der ersten Werkstätten lotst. Auf einem erhöhten Podium sitzen hier die Meister der Form, gebeugt über graues Arbeitsmaterial auf rotierenden Töpferscheiben.
Einer der jüngeren Arbeiter demonstriert uns in unglaublicher Schnelligkeit die Herstellung eine Tajine. Er verbeugt sich am Ende und wir sind unsicher wie wir reagieren sollen. Bei ernsthafter Betrachtung haben wir hier eigentlich nicht wirklich was verloren. Dann geht es weiter in die Malerwerkstatt, wo Mädchen und Burschen wie aufgefädelt an den Wänden sitzen und ihre handwerkliche Kunst mit Pinsel und Farbe demonstrieren. Ich ziehe mich bald zurück und schaue den Arbeitern im Hof zu, die unter einem offenen Wellblechdach Mosaiksteine aus fertig bemalten und gebrannten Kacheln herstellen. Dazu verwenden sie fein geschliffene Hämmer und die Kacheln brechen tatsächlich an den Linien, wo sie es haben wollen.
In denselben Vorhof münden auch die Heizöffnungen der Brennöfen, die von ernsten Männern immer wieder mit Olivenmaische gefüllt werden. Und merkwürdigerweise scheinen sie auch die Einzigen zu sein, die uns überhaupt wahrnehmen.
Doch schließlich dürfen wir die Stufen in den Verkaufsraum der Werkstätten hinuntersteigen, wo wir „die Möglichkeit bekommen“ einige der fertigen Töpfereiprodukte zu bewundern und zu kaufen. Einiges ist wirklich schön und anziehend. Wir erstehen auch ein paar Sachen. Allerdings keine Teller, die arabisch beschriftet den Namen FES tragen, obwohl sie uns von Hamid, unserem offiziellen Führer, so warm empfohlen werden.
Danach erlaubt man uns endlich in die unglaubliche Atmosphäre dieser Stadt einzutauchen. Wir beginnen zunächst im Judenviertel – nein, doch nicht! Zuerst fotografieren wir die Eingangsportale des Königspalastes von Fès.
Es sind fünf Portale verschlossen durch vergoldete Tore, die mit dem weithin sichtbaren Spinngewebe Gottes geschmückt sind. Es sind tatsächlich Eingangstore zum Paradies. Hinter ihnen erstreckt sich ein Areal von achtzig Hektar und eine Palastanlage, die im Laufe der Jahrhunderte immer mehr gewachsen ist.
Neben den eigentlichen Palast- und Wohngebäuden gibt es eine eigene Moschee, eine Medersa und eine Koubba - umgeben von Höfen, Plätzen und Gärten... Es wäre noch einiges zu berichten über die Schönheit der Palastanlage, aber sie bleibt für unsere Augen unsichtbar – eingeschlossen in den Texten unseres Reiseführers.
Wir wandern weiter in Richtung Judenviertel, der Mellah. Die Juden standen in früheren Zeiten direkt unter dem Schutz des Sultans und wurden in seiner unmittelbaren Nähe angesiedelt, da er ihre Dienste als Geldverleiher, Goldschmiede und Juweliere häufig in Anspruch nahm. Bis zum Beginn der Protektoratszeit durften die Juden nur in der Mellah wohnen – als die Franzosen dieses Verbot aufhoben, zogen die meisten von ihnen in die Ville Nouvelle. Allerdings verzichteten sie damit auch auf das Recht einer eignen Verwaltung mit einem gewählten Stadtrat und einem vom Sultan ernannten eigenen Bürgermeister, sowie einer eigenen Gerichtsbarkeit, die von drei Rabbis ausgeübt wurde. Da die Juden als franzosenfreundlich galten, hatten sie nach der Unabhängigkeitserklärung keine guten Zeiten zu erwarten und zogen daraus ihre Konsequenzen. Die meisten von ihnen gingen damals nach Kanada. Ein Teil von ihnen ging schon vorher, nach der Gründung des Staates Israel nach Palästina, während ihnen andere nach dem Sechstage-Krieg nachfolgten.
Die Mellah besitzt ein ganz anderes Gepräge als die arabische Medina. Ihre Hauptstrasse ist ungewöhnlich breit. Die zwei bzw. dreistöckigen Häuser sind meist höher und gegen die Strasse nicht abweisend verschlossen, sondern mit Türen und Fenstern ausgestattet, die häufig mit geschnitztem Holzflechtwerk oder schmiedeeisernen Gittern geschützt sind. Auch gibt es schöne Holzbalkone, die im andalusischen Stil die Straßenfront der Häuser beleben. Zum gemütlichen Bummeln eignet sich diese verkehrsreiche Durchzugsstrasse allerdings weniger, obwohl sie von kleinen Läden gesäumt ist, die interessanten Schmuck und Silberarbeiten anbieten. Wir wandern ein Stück die Hauptstrasse hinunter und biegen sehr bald rechts ab. Die schmale verlotterte Seitengasse, die wir hinuntergehen, wird von Häusern gesäumt, deren Mauern nur mehr durch Bretter und Holzpfeiler zusammengehalten werden. Im Reiseführer lesen wir später, dass dieses Viertel, die ehemalige Mellah, heute von den ärmsten Zuwanderern bewohnt wird.
Dann aber betreten wir eine kleine Synagoge und sind vom ersten Augenblick an gerührt von der einmaligen Atmosphäre, die in diesem Raum herrscht. Der Raum ist fast so hoch wie breit und mit altem Mobiliar ausgestattet. Es sind einfache und gerade Mauern mit ockerfärbigen Anstrich, die den Raum umschließen und nichts deutet darauf hin, dass er im 18.Jh. erbaut wurde. Wir sind gewohnt, das
18. Jh. mit einem besonderen Baustil zu verbinden – doch hier haben keine Architekten mitgewirkt. Hier wurde ein Zweckbau errichtet – zwar dreihundert Jahre alt, aber genauso schlicht gebaut, wie zurzeit davor oder danach. Auch der Thoraschrein enttäuscht jegliche schöngeistige Erwartung. Er ist aus groben Brettern zusammengefügt und mit dunkelrotem bzw. braunem Lack angestrichen
Wenn man den Schrein öffnet, kommen zwei dünne ganz armselig wirkende Thorarollen zum Vorschein. Und dennoch hat dieser Raum etwas zu geben, das sich nicht in Worten einfangen lässt. Zuletzt zwänge ich mich noch eine enge Treppe zum Brunnen hinunter, wo die rituellen Bäder stattfanden – so klein alles, so nicht zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Menschen hier lebten und Gottesdienst feierten...
Wieder draußen bewegen wir uns in Richtung Fes el Bali, wenden uns zunächst dem Viertel Kairouine zu und später dem Viertel el Andalus -und endlich - so lange erwartet und erhofft, dürfen wir hinein in das Getriebe der Souks. Hamid, begleitet uns auch durch die Souks. Er passt immer auf, wenn wir uns von der Gruppe zu sehr entfernen: wenn wir einfach stehen bleiben, fotografieren und den Anschluss verpassen. Wir fotografieren wie die Wilden, auch „aus der Hüfte“, wie wir das nennen, wenn es schnell und unauffällig geschehen soll, weil wir das alles hier einpacken und mitnehmen wollen. Und wir bringen sicher viele schöne Ansichten, Portraits, ect. nach Hause mit. Aber die Atmosphäre hier, die Bewegung, der Anblick der buntgekleideten Frauen, die so ganz beiläufig auch uns mit musternden Blicken streifen, das können wir nicht „einfangen“ nur ganz drinnen mit dem Herzen spüren und ein bisschen für uns selber bewahren.
Dann geht es plötzlich nach rechts und wir stehen im Eingang einer der berühmten Koranschulen von Fes der Medersa El Attarin. Koranschulen waren eigentlich Universitäten. Wenn man hier aufgenommen wurde, musste man den Koran schon im Wesentlichen auswendig können. Normalerweise wurde an der Schule 16 Jahre studiert. Es wurden alle wissenschaftlichen Fächer hier unterrichtet, neben Theologie, auch alle bekannten Naturwissenschaften, einschließlich der Mathematik. Einige der Studenten blieben als Lehrer an der Koranschule, andere gingen in den Staatsdienst. Lange Jahrhunderte hindurch war es die einzige Möglichkeit eine höheren Schulbildung zu erlangen, und das in einem atemberaubenden Ambiente.
Auch diese Koranschule, die wir jetzt betreten, ist von einer überwältigenden Schönheit. Und es finden sich wieder die bekannten Elemente: Fliesenmosaike gekoppelt mit Marmorplatten – Spruchbänder als glänzende und schwungvolleÜberleitungen zu den oberen Wandteilen, worüber sich Friese mit Lebensbaummotiven fortsetzen, die von weißer Stuckornamentik abgelöst werden. Der ganze Raum wirkt wie in ständig „ruhender Bewegung“, ein Eindruck, der offensichtlich durch die sich verschlingende Ornamentik, die keinen Anfang und kein Ende kennt, hervorgerufen wird. Der gelungene Versuch, den Himmel schon ein klein wenig auf die Erde herabzuholen? Später besuchen wir eine weitere Koranschule, die Medersa Es Sahrij im Andalusierviertel. Sie wirkt wesentlich bescheidener, kleiner und älter als die Medersa El Attarin, aber faszinierend und ähnlich geschmückt – die Beschreibung müsste sich wiederholen, weil die Gestaltung der verschiedenen Koranschulen sehr ähnlichen Mustern folgt.
Aber wir haben noch einiges Anderes vor in Fès: z. B. die Besichtigung des außergewöhnlichen und meistfotografierten Wandbrunnen der Stadt am Place en Nejjarin , der 1711 errichtet wurde. Er ist mit eindrucksvollen Mosaiken verziert und mit einem Zedernholzdach überwölbt, das wieder mit grünen Glasziegeln abgedeckt ist. Daneben steht der gleichnamige Fondouk, dessen geschmückte Eingangsfassade und geschnitztes Tor heute zu den Ausstellungshallen eines Tischlereimuseums führt. Der Platz selbst wirkt wie ein abgeschlossener Raum. Die Gassen, die in ihn münden sind schmal und versetzt angelegt, sodass sie nicht einsehbar sind. Es ist warm hier und ich möchte gern bleiben in dieser fremden aber gleichzeitig südlich vertrauten Atmosphäre.
Doch wir müssen wieder weiter. Unmittelbar neben dem Platz befinden sich
Wir sehen keinen Menschen, keine Arbeiter, keine Verkäufer, aber mächtige Thronsessel in Gold und Silber. Die ausgepolsterten Rücken und Armlehnen, sind mit Zierwülsten geschmückt und mit verschieden farbigen Glanzstoffen über-zogen. Daneben gibt es Tragetische mit Baldachinen, die aus Metall hergestellt sind; in barocken Formen mit kunstvollen Rändern und Ziselierungen. Das Ganze erscheint mir so übertrieben und künstlich gemacht, dass ich nur kopfschüttelnd das Weite suchen kann. Wer kann sich solche Hochzeitsthronsessel leisten, frage ich mich? Was soll damit ausgedrückt werden? Wie passt das Ganze in das 21. Jahrhundert? Fragen über Fragen, die mir auch unsere Reiseleiter nicht wirklich beantworten kann, weil er eher in der Vergangenheit beheimatet ist, als in der Gegenwart.
Weiter wandern wir im Kairaouine-Viertel und treffen auf das Grab des Moulay Idriss II., dem eigentlichen Gründervater der Stadt. Das Grab ist ebenso wie das seines Vaters von den Meriniden im 15. Jh. entdeckt und durch den Bau einer Zaouia der Vergessenheit entrissen worden. Später ist dieses Grabmal zum höchsten Heiligtum der Stadt und einem wichtigen Wallfahrtsziel geworden. Diese Tatsache muss allerdings nicht erst besonders betont werden – die Andenken und Devotionalienläden in der unmittelbaren Umgebung des Grabmals machen das mehr als deutlich,
An der Außenwand des Grabes gibt es eine sternförmige Kupferplatte mit einem Loch in der Mitte. Durch dieses Loch stecken die Gläubigen ihre Hand, und zwar in der Hoffnung, dass etwas von der baraka des Heiligen auch auf sie übergeht. In das Innere vorzudringen ist keinem Nicht-Muslimen gestattet – auch dürfen Frauen das eigentliche Grabmal nicht betreten, sondern müssen sich in einem eigenen Vorraum mit der Nähe des Heiligen begnügen. Wir schlendern weiter durch die engen und verschlungenen Gassen der Stadt, die in der Literatur so oft und so poetisch beschrieben werden. Es sind Wellen von Eindrücken, die Schritt für Schritt über uns hinweg fließen: geformt aus Farben, Bewegung, Geräuschen und Düften. Es ist eine Sinfonie aus sinnlichen Erlebnissen, die uns umfängt und unsere mitteleuropäische Lebenserfahrung um eine Dimension erweitert. Es sind sehr viele Leute unterwegs – die Festtage werfen ihre Schatten voraus und viele eilen noch notwendige Dinge einzukaufen, bevor die Geschäfte in den Souks für einige Tage schließen. Mitten unter den Leuten tauchen immer wieder Karren auf, worauf Hammel durch die Menge geschleust werden. Die Burschen mit den Hammeln sind immer fröhlich, lachen und wirken glücklich über das Familienfest, das am anderen Tag beginnt.
Ich könnte stundenlang hier bleiben und mich einfach treiben lassen...durch die Gassen mit dem schattenspendenden Lattendach, das Gittermuster auf die Gesichter und Kleider der Leute legt; möchte sehen und riechen, hören und mich weiter „durchwuzeln“ lassen durch die engen belebten Gassen… Doch wir sind Touristen mit fixem Programm und es geht weiter –
Da das Hammelfest - das in Erinnerung an die Rettung des Isaaks einige Tage lang gefeiert wird - nahe ist, wird in den mittelalterlich wirkenden Gerberbetrieben nicht gearbeitet. Das heißt, dass wir den romantischen Eindruck nachgeben dürfen, der sich beim Anblick der aus Ziegeln und Kacheln geformten Bottichen einstellt. Aber wenn man dem Baedeker vertrauen darf, dann wird hier noch Leder verarbeitet und gegerbt, und zwar von jungen Männern, die ohne besondere Schutzanzüge auch im heißen Sommer diese Arbeit mit bloßen Händen und Füßen verrichten müssen. Ich bin froh, dass sie heute nicht da sind. Nostalgie in Richtung früherer und besserer Zeiten hat zweifellos ihre klaren und deutlichen Grenzen.
Wieder wandern wir weiter durch die engen Straßen des Kairaoune-Viertels und betreten ein „gutes Stoffgeschäft“. Ich bin mit den Gepflogenheiten hier noch völlig unvertraut und falle dem Verkäufer völlig ungeschützt in die Hände. Dass man eine Sache zunächst um ca. 500% höher anbietet, als sie wert ist – das weiß ich jetzt aber im Stoffgeschäft packte mich der „unheilige“ Zorn auf die Anmaßung mir einen so hohen Preis für einen einfachen Kaftan zuzumuten.
Es war viel am heutigen Tag. Eine gewaltige Fülle von Eindrücken ist auf uns alle eingeströmt und als wir abschließend noch einen Silberschmied aufsuchen, verweigere ich mich und will nur weg. Zum Feilschen und Handeln habe ich keine Kraft mehr und beschließe bei mir, nicht nur im Moment, sondern und auch in Zukunft hier nichts einzukaufen. Später wurde es zwar ein bisschen besser, aber allein schaffte ich die mühsame Prozedur des Einkaufens auch dann nicht. Marlies, unsere Finanzexpertin, war fast immer an meiner Seite und vollendete das Werk des Einkaufens mit Schwung und Bravour, wofür ich ihr noch immer sehr dankbar bin.
Das Mittagessen an diesem Tag habe ich nicht erwähnt – weil es vielleicht nicht sondern überhaupt nicht zu unserem Tag passte. Und dennoch - so um die Mittagszeit holte uns der Autobus ab und brachte uns zum Bordj Sud: einem berühmten Aussichtspunkt – sanfter Hügelrücken mit Palmen und darunter wieder das Häusermeer dieser wunderbaren Stadt. Dann verfrachtet man uns per Bus in die Ville Nouvelle – und dort in ein Restaurant der Spitzenklasse. Der Koch hat jahrelang in Frankreich gearbeitet (fast wollte ich schreiben studiert...), bis er sich hier das Restaurant leisten konnte. Eine runde Tafel ist aufwendig gedeckt mit Damastservietten und Silberbesteck. Unser Reiseleiter, der sich offensichtlich schon lang darauf gefreut hat hier zu essen, öffnet die Speisekarte, wie Leporello die Liste der Geliebten des Don Giovanni und beginnt zu rezitieren: „Es gibt...“ und es folgt eine Litanei von Fischgerichten – dann Pause - und Empfehlungen von Nationalgerichten, Süßspeisen, usw.
„Sie essen sicher am liebsten Pastille, ein marokkanisches Nationalgericht...“
Fünf von uns unterwerfen sich, Marlies nicht... Ich wäre gern in den Gassen der Souks geblieben und hätte dort von den Köstlichkeiten gegessen, die so malerisch auf den Tischen der Kleinrestaurants angeordnet waren --- doch wir sind Gruppenreisende mit reduziertem Eigenwillen....
Irgendwann durchschreiten wir auch das Tor Bab Boujeloud, womit es eine besondere Bewandtnis hat. Richtung Innenstadt ist es grün gekachelt, Richtung Platz blau – grün ist die Farbe des Propheten, blau die Farbe der Stadt Fès. Es wurde 1913 errichtet und ist daher ein reiner Dekorationsbau. Allerdings ist das Tor das „Fotomotiv“ der Stadt. Warum? Wenn man sich niederkniet, dann kann man durch den großen Rundbogen in der Mitte zwei Minarette aufs Bild bringen: das der Medersa Bou Inania und der Moschee Sidi Lezzaz. Wir haben uns niederkniend gegenseitig fotografiert – eben wie Touristen das so machen.
Wir haben hier auch Tee getrunken. Ich erinnere mich an einen wunderbaren Platz mitten in der Stadt, mit einem dekorativen Wasserrad an der einen Seite des Restaurantgartens - die Kellner trugen rote Uniformen – es war still und gemütlich und die Sonne war warm... Wir tranken den süßen Minzetee.... (Wo das war? Das weiß ich nicht mehr ---) Fès; du zauberhafte Stadt – wie verwirrend bist du aufgebaut – aber vielleicht liegt gerade darin auch ein Geheimnis deiner Faszination...
Früh am Morgen des folgenden Tages geht es weiter. Wir haben eine längere Busfahrt vor uns und ich denke mich beim Betrachten der vorbeiziehenden Landschaft zu entspannen. Doch es sollte anders kommen. Unser geschichtlich äußerst bewanderter Reiseleiter skizziert während der Fahrt die Geschichte der Juden, der Berberstämme und der marokkanischen Dynastien bis heute. Er weiß unendlich viel und ich versuche mitzuschreiben – doch es wird nur ein sehr lückenhafter Bericht, weil er oft von einem Thema ins andere springt. Ein gelehrter Mann zweifellos, an Pädagogikseminaren hat er sicherlich nicht teilgenommen.
Doch bevor wir in die Vergangenheit eintauchen, fahren wir durch ein sehr merkwürdiges Dorf. Zunächst fällt einem als Europäer gar nichts auf, weil der Anblick allzu gewohnt ist. Es gibt hier Häuser mit Satteldächern und dazwischen Bäume und Gärten. Was soll daran Besonderes sein? Das gibt es doch überall – so denke ich bei mir. Doch erst als uns der Führer darauf aufmerksam macht, dass wir ja in Marokko sind, wird uns die Seltsamkeit dieses Ortes bewusst. Wir erfahren, dass Ifrane als Höhenkurort der französischen Einwanderer gegründet wurde und bis heute als Sommerfrische der reichen Bevölkerung beliebt ist. Rundherum gibt es Hügeln mit Wäldern aus Eichen, Tannen und Zedern und auch ein Königsschloss, das unseren Ritterburgen nachempfunden ist. Ein ideales Gebiet zum Wandern, Jagen und Angeln und man versteht sehr gut, dass die Bewohner der umliegenden Städte sich hierher gerne zurückziehen. Eine Besonderheit kommt noch dazu, die so genannte Bruderuniversität, die von Engländern gegründet wurde, wo bis heute Angehörige des Juden- und Christentums mit den Moslems gemeinsam studieren und wichtige religiöse Fragen erörtern. Dass so etwas möglich ist, rechne ich unter die wirklichen Wunder unserer Zeit...
Weiter geht es in Richtung Süden durch die berühmten Foret de Cèdres. Später halten wir inmitten des Zedernwaldes. Hier wirkt es ein bisschen so wie zu Hause in unseren Gebirgsregionen, denke ich und laufe zwischen den großen Bäumen hinauf auf einen Hügel. Es gefällt mir hier und ich bleibe einige Zeit zwischen den vertrauten Stämmen. Doch diese Eigenbrötlerei rächt sich bald. Zwei Soldaten tauchen auf und erklären mir sichtlich, dass ich etwas streng Verbotenes tue. Ich laufe hinunter und grinse sie freundlich an – und sie grinsen freundlich zurück. Jetzt glaube ich eher, dass ihnen nur langweilig war. Aber zuerst haben sie mich schon erschreckt. Weiter geht die Fahrt durch sanft und weit geschwungene hügelige Landschaft, die in Straßennähe von Zedern bewachsen ist, die in größeren Höhen von Macchia abgelöst werden. Ein vertrautes Bild, das sich nach Azrou langsam verändern wird, wenn wir in Richtung Süden abbiegen. Azrou bleibt links liegen und die freundlichen Souks und Handwerksbetriebe, die vom Baedeker warm empfohlen werden, ebenfalls. Auch entziehen sich die Affen des Foret de Cèdres in der Nähe von Azrou unseren Blicken, was irgendwie schon schade ist.
Doch dürfen wir immer wieder aussteigen, um die weißbedeckten Gipfel des Atlas zu fotografieren. Ich verweigere diese Fototermine – weil ich in meinem Leben schon genug verschneite Berge gesehen habe. Es wird mir auch später nicht leid tun, weil mir die Mitreisenden ihre Fotos gerne zur Verfügung stellen werden. Warum ich dann überhaupt selber fotografiere? Ja, das frage ich mich auch manchmal – obwohl eigene Bilder, so aus dem persönlichen Blickwinkel, auch etwas für sich haben... Weiter geht es durch eine sich allmählich verändernde Landschaft. Es wird trockener und herber draußen und die Gehöfte der halbnomadischen Berberstämme wirken immer einsamer und verlassener. Die Menschen hier leben unter Bedingungen, die für uns modernen Menschen unvorstellbar sind. Es ist Winter und sehr kalt hier oben. Aber es gibt kaum Holz oder andere Möglichkeiten zum Heizen... Es gibt keine Infrastruktur, keine Krankenhäuser, keine Schulen – nur einfache Lehmhütten, die mit lehmverschmierten Holzgittern gedeckt sind.... Es gibt nur Menschen und Tiere in dieser grandiosen Landschaft, die von den schneebedeckten Gipfeln des Atlas umrahmt wird.
Während wir so dahinfahren, kommen immer wieder interessante Ruinen in unseren Blick. Sie stammen aus den Zeiten, als die Menschen noch in Dorfgemeinschaften zusammenlebten – in so genannten Kasbahs und eine ganz besondere architektonische Struktur entwickelt hatten, um sich u.a. gegen Angriffe von außen zu sichern. Langsam verfallen diese Bauten aus Lehm, die immer wieder der Reparatur bedürfen, weil das Baumaterial sehr kurzlebig ist. Man denkt auch an deren Rettung, aber von der Diskussion bis zur Tat ist es eben auch hier ein langer Weg. Dann wir nähern uns den alten Bergwerksregionen um Midelt. In Zaida rasten wir in einem Restaurant mit Weitblick auf einen Tafelberg, der Wind und Wetter standgehalten hat. Wir trinken Tee und Kaffee, fotografieren die zahlreichen Kinder, die hier herumlaufen und einen Hammelbesitzer, der sein Opfertier stolz vor unseren Kameras präsentiert. Ein bisschen Bibelambiente weht mich an, wenn ich die Freude und den Stolz zu verstehen suche, womit hier das Lamm zum Kultgegenstand avanciert. Es ist auch das Fest der Isaak-Rettung, das Morgen gefeiert wird. Für mich ist diese Geschichte ein pädagogische Meisterleistung: wie hätte man anders und besser klarmachen können, dass der Gott Abrahams, der geistige Vatergott keine Freude an Menschenopfern hat? Dass er sich dadurch wesentlich unterscheidet von falschen Göttern und Götzen seiner Zeit? Da Abraham so lange auf die Geburt seines Sohnes warten musste, wird der Spannungsbogen des Berichtes unglaublich gesteigert. Durch die Tatsache, dass Isaak, dieses ersehnte und nur durch ein offensichtliches Wunder geborene Kind geopfert werden soll, wird die Forderung Gottes fast monströs. Und dann ereignet sich die unerwartete Lösung: ein Engel hält die zum Töten erhobene Hand Abrahams zurück und der Widder, der sich in der Nähe in einem Dornbusch verfangen hat, übernimmt die kultische Einlösung des Opfers. Eine wirklich eindrucksvolle Geschichte, die aber schließlich im Christentum in geheimnisvoller Weise überhöht wird, indem Jesus der menschgewordene Gottessohn den Opfertod am Kreuz freiwillig auf sich nimmt und kein Lamm, kein Tier an seine Stelle treten wird.
Nach einiger Zeit, wo uns die Straße durch trockene kahle und Ebenen leitet, beginnt die Fahrt durch die 6 km lange Schlucht von Aouli. Hier schieben sich gewaltige Felsformationen übereinander und präsentieren ihre Schrunden, Falten und Strukturen vor unseren Augen - nackt und ungeschützt durch Bäume, Sträucher oder Gras. Doch der Eindruck von Ernst und Würde, der von dieser verwitterten Land-schaft, den ungewöhnlichen, teils malerischen, teils abweisenden Formen der Felsen und Hügel ausgeht, fasziniert und bewegt uns. Diese Landschaft scheint lebendig trotz ihrer starren Formen. In früheren Zeiten gab es entlang des Wassers kleine bewohnte Flussoasen, dieheute weitgehend abgesiedelt sind. Übrig geblieben sind malerische Ruinen, die sich gut zum Fotografieren eignen, mich aber traurig stimmen. Später halten wir vor einem kurzen Straßentunnel, dem einzigen auf dieser Strecke und wir erfahren so nebenbei, dass alle Atlasstrecken von Fremdenlegionären gebaut wurden. Ich kannte einen von diesen Männern, die hier gearbeitet haben. Ich war noch sehr jung und hörte nur so nebenbei von dem Skandal, dass der Sohn des Malermeisters Fremdenlegionär geworden war. Von heute auf morgen war er weg gegangen. Ich erinnere mich noch an ihn. Er war ein schmaler junger Mann mit sehr dunklen und tiefen Augen. Ob die Flucht zu den Legionären ihm die ersehnte Distanz und den Frieden gebracht hat? Ich weiß es nicht und es wurde später auch nicht mehr über ihn und sein Abenteuer gesprochen. Nach einigen Jahren kam er zurück, hat geheiratet und ein unauffälliges Leben geführt. Ich würde heute sehr gern mit ihm reden – doch das geht nicht mehr, weil er früh gestorben ist.
Weiter geht es durch das Ziz-Tal (Gorges du Ziz) Richtung Er-Rachida. Unterwegs leuchten uns die Wasserflächen des Tamarischen Stausees entgegen, umgeben von rötlicher Bergeinsamkeit. Die Strasse windet sich weiter durch Fels und Trockenlandschaft bis sich plötzlich und unerwartet der grüne Teppich der Oase von Er-Rachida entrollt. Wir dürfen aussteigen und fotografieren... Palmenhaine, Gartenpflanzungen, Häuser aus Lehm, die teilweise noch bewohnt sind, erstrecken sich vor unseren Augen: ein ebenso überraschendes wie schönes Bild. Später kommen wir durch kleinere Orte, die in der Flussoase eingebettet sind und erfahren viel über das Leben und die Probleme der Oasen.
Das Tafilalet ist ein rund 1400 km² großes Oasengebiet, das durch die parallel fließenden Flüsse Oued Ziz und Oued Rheris bewässert wird. Sein rund 30 km langes und fünf bis fünfzehn Kilometer breites Zentrum befindet sich in der Gegend um Erfoud und Rissani. Das Kulturland umfasst zwar nur 15 Prozent der Gesamtfläche, trotzdem bildet das Tafilalet die größte zusammenhängende Oase Marokkos. Die Dattelpalme ist die Kulturpflanze dieser Region schlechthin. Daneben gibt es auch Olivenbäume und die allgegenwärtige Tamariske, die Spenderin von Takaout – einem besonderen Gerbstoff, der das Leder wenig angreift und seine natürlichen Farben und Eigenschaften bestehen lässt. Das so gewonnene Filiali-Leder ist neben den Datteln das wichtigste Handelsprodukt der Großoase. Zwischen den Palmen werden auf intensiv kultivierten Flächen landwirtschaftliche Produkte des täglichen Bedarfs angebaut, wie Getreide, Gemüse, Tabak und Baumwolle. Obwohl das Tafilalet eine alte und bedeutende Kulturlandschaft Marokkos ist, deren ehemalige Hauptstadt Sijilmassa bereits 757 n. Chr. gegründet wurde, ist die Oasenlandschaft heute massiv von Abwanderung bedroht. Dürreperioden, der sinkende Grundwasserspiegel und die verheerende Pilzerkrankung der Dattelpalmen machendas Überleben in der Oase immer schwieriger. Als eines der wichtigsten Zentren der westlichen Trans-Sahara-Routen erlebte die Region zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung. Hier wurden Datteln, Salz, Stoffe und Metalle gegen Gold, Elfenbein, Straußenfedern und später gegen schwarze Sklaven (16. – 18Jh.Timbuktu-Karawanen) aus dem Sudan und der Guineaküste eingetauscht. Im
17. Jh. begannen die Alaouiten von hier aus ihre Eroberungszüge nach Norden. Unter Moulay er Rachid nahmen sie 1666 sogar Fés und Nordmarokko ein und gründeten ihre noch heute herrschende Dynastie. Mit dem Niedergang des Karawanenhandels verlor das Tifilalet seine Bedeutung. Ende des 19.Jhs. brachte Ma el Anim die Region unter seine Herr-schaft. Er bekämpfte die Franzosen bis zu seinem Tod 1910. Auch gelang es den Franzosen erst 1932 das Gebiet zu erobern. Sie befreiten damals die Leibeigenen der arabischen und berberischen Feudalherren. Die Nachkommen der ehemaligen schwarzen Sklaven, die Haratin, stellen heute einen großen Teil der Bevölkerung dieser Region, die aber von den Arabern dominiert wird. Berber bilden die drittgrößte ethnische Gruppe – aus ihrer natürlichen Vermischung im Laufe der Zeit entstanden die Filali.
Erfoud, als Garnisonsstadt von den Franzosen 1917 gegründet, dient bis heute als militärischer Stützpunkt der königlich marokkanischen Armee im algerischen Grenzbereich. Sie hat den Charme einer Stadt, wo alles auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen einer Männerwelt eingerichtet ist. Darüber hinaus ist dieses Gemeinwesen als Bezirkshauptstadt in die Pflicht genommen. Was darunter zu verstehen ist? In unseren Breiten würden wir diese Stadt bloß durchfahren, weil nichts oder kaum etwas geeignet ist das touristische Auge zu fesseln – weil sie lediglich praktischen Interessen dient, worin sich nur ganz zufällig charmante Züge entdecken lassen. Und dennoch wir bleiben heute hier, am Silvesterabend des Jahres 2006. Allerdings hat unsere Reisagentur ein besonderes Hotel gebucht, um das Silvesterfest möglichst vornehm zu gestalten und das geschieht auch – aber erst später... Während der Fahrt wurden bereits zwei Jeeps gebucht, die uns zu den nahe gelegenen Sanddünen von Erg Chebbi bringen sollten. Zuerst geht es über eine glatte Fahrbahn dahin, die allerdings nach einigen Kilometern in rissigen und trockenen Erdkrusten endet. Doch unserem Fahrer macht das nichts aus – kaum dass er die Geschwindigkeit etwas verringert. Wir fahren holpernd weiter und die geschwungenen Hügeln des Erg Chebbi kommen immer näher... Schließlich halten wir und dürfen fotografieren: Sanddünen breiten sich vor uns aus
– es ist Spätnachmittag und das Licht der Sonne legt sich wie ein glühender faltenloser Mantel über die fremde Landschaft. Ich entferne mich von der Gruppe, um mich mit dieser gewaltigen Landschaft innerlich auseinander zu setzen.
Doch bald müssen wir wieder einsteigen und weiter geht es zum Stützpunkt des Kameltrekkings. Zu dieser Art von Touristenattraktion kann man verschiedener Meinung sein – doch irgendwie reizt es mich, diese seltsamen Tiere zu berühren, aufzusitzen und mich eine Wegstrecke tragen zu lassen.
Einige von uns wenden sich ohne Kamele zum Erg Chebbi und wandern auf einer der Dünenflanken aufwärts. Wir, das sind Marlies, Horst, sein Sohn Max und ich, besteigen vier Kamele, die schließlich aneinandergebunden und von ihrem Führer in die Dünenlandschaft hineingeleitet werden. Wir sind aufgeregt und genießen gleichzeitig das Gefühl des „Geschaukeltwerden“, eine Empfindung, die ich in dieser Intensität seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt habe. Unsere Schatten sind lang und reihen sich hintereinander, wie auf alten Gemälden. Schließlich legt sich unsere Aufregung und wir werden still. Unser Schweigen wird umfasst von dem Schweigen der Landschaft – wo scheinbar kein Leben existiert – wo es nur Licht und Sand gibt. Ich würde gern endlos so weiter reiten – hinein in eine unbekannte Weite, worin es nur Licht und Helligkeit gibt und der Lärm der täglichen Verantwortung sich aufhebt im Schweigen. Doch sehr bald müssen wir wieder herunter vom Kamelsattel und zu Fuß weiter. Ich versuche die Dünenflanke hinaufzuklettern, aber das gelingt mir kaum – in dem lockeren Sand findet mein Fuß keinen Halt und ich rutsche immer wieder zurück. Doch schließlich stehen wir oben auf der Dünenhöhe und der Blick reicht weit nach Osten, wo die Oberfläche eines Stausees aufglitzert. Vor uns im Westen neigt sich die Sonne zum Horizont und wir stehen schweigend und betrachten das unbeschreiblich schöne Schauspiel. Es ist eine Sinfonie von Farben, die sich am Firmament enthüllt, ungetrübt von Feuchtigkeit und Nebel, ohne Schleier und Wolkenverkleidung versinkt der große Lichtkörper hinter dem Horizont.
Wieder bei den Kamelen angekommen packt unser Führer Gegenstände aus geschliffenen Fossilien aus einer Tasche und breitet sie auf einer Decke mitten in der Dünenlandschaft vor uns aus. Er erklärt uns, dass die Sachen von seiner Familie erzeugt würden und er sie uns daher um einen Sonderpreis abgeben könne. Wir tun als glaubten wir ihm und handeln die Preise herunter. Schließlich sind aber alle zufrieden und wir besteigen wieder unsere Kamele. |
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Es geht zurück in der Abenddämmerung, die sehr schnell hereinbricht, wie in vielen Berichten über Afrika zu lesen ist und wie wir es jetzt selber erleben dürfen. Beobachtungen am Rande: Die Kamelbesitzer und ihre Crew besitzen Wohnmobile modernster Bauart, die sie im Kreis aufgestellt haben und für die Tagestouristen normalerweise unsichtbar bleiben. Alle freuen sich als wir endlich da sind, weil es schon spät geworden ist und noch ein Programmpunkt auf uns wartet. Und tatsächlich klettern wir bald mit Feuerzeugen und Taschenlampen in der Hand über die Fossilienfelder von Erfoud. Sie stammen aus dem mittleren Paläozoikum und sind 350-480 Millionen Jahre alt. Doch besonders erfolgreich sind wir nicht bei der Jagd nach interessanten Fossilien in der tiefen Dunkelheit. Doch unsere Führer tröstet uns: am folgenden Tag werden wir eine Schleiferei von fossilem Gestein besuchen, wo wir diese käuflich erwerben könnten – Naja! Weiter geht es durch die Dunkelheit über die holprige Piste. Dieter und Christl, unsere Reisegefährten, erzählen uns unterwegs von Ihren Wüstenerlebnissen in Ägypten – einer achttägigen Jeepreise durch die Sandlandschaft der Sahara. Wie schön wäre es so etwas zu erleben! Ich hänge noch dem Erlebten nach und möchte am liebsten umkehren – hier draußen bei den Berbern Silvester feiern – bei den Männern mit den schönen eindrucksvollen Gesichtern, mit der stolzen fürstlichen Haltung und den traurigen ins Unendliche gerichteten Augen.
Das Hotel El Ati ist ein Bau aus den Achzigerjahren, der sich mit einer lang gestreckten beeindruckenden Fassade vor uns erhebt. Durch ein einfaches Portal betreten wir zunächst eine Aula von ungewohntem Ausmaß. Direkt vor uns in der Mitte der Halle empfängt uns ein riesiges Brunnenbecken im traditionellen Stil. Im Hintergrund erheben sich hohe Gemälde mit abstrakten Inhalten und in hellen Farben. Seitlich vom Brunnenbecken sind zwei Sitzgruppen angeordnet, die sich in dem riesigen Raum fast verlieren. Es ist kalt hier drinnen und ich möchte so schnell wie möglich auf mein Zimmer. Die Nummerierung folgt einem eigenen, nicht unmittelbar einsichtigen Plan, wodurch sich die Suche etwas mühsam gestaltet. Lange wandere ich über Treppen und Gänge bis ich schließlich bei meinem Zimmer ankomme: Es ist riesig – ebenso das Badezimmer. Als ich die Türschnalle von innen berühre, reagiert sie aber nicht,sondern hängt herab wie ein toter Vogel. Ähnliches erlebe ich bei den Badezimmerarmaturen – doch die Handtücher sind groß und sauber – auch gibt es Seife, hygienisch abgepackt und Shampoo. Dieses großartig und elegant geplante Hotel verkommt langsam und zusehends, weil, ja worin liegen die Gründe, dass die einfachen Reparaturarbeiten vernachlässigt werden? An den Reinigungskräften liegt es nicht – die arbeiten gut – sie werden wahrscheinlich auch streng beaufsichtigt – aber wer trägt die Verantwortung für die Kleinreparaturen? Niemand oder alle? Es ist nicht das erstemal, dass ich mit diesen Mängeln konfrontiert bin. Dasselbe habe ich schon in Italien erlebt, in Griechenland, in Spanien und in Frankreich. Doch wahrscheinlich dürfte ich als mitteleuropäisches Handwerkerkind nicht in Hotels dieser Kategorie übernachten.
Ich kleide mich um und „schreite“ zum abendlichen Dinner. Während ich mich über Stiegen und Gänge hinuntertaste wird ein Dröhnen, das schon vorher zu hören war, immer deutlicher – und erweist sich schließlich als Gruppe trommelnder Haratins. In gestreifte Djellabahs gekleidet mit ebenholzschwarzen Gesichtern trommeln sie ihre Rhythmen, die unser Ohr kaum bewältigen kann. Doch sind sie zu unserer Unterhaltung eingeladen und wir begeben uns in den Speisesaal, wo das Fest beginnt.
Wir nehmen Platz. Unser Reiseleiter erscheint und ereifert sich über die Musik – er kann sich nicht und nicht beruhigen und strahlt seine negativen Gefühle rücksichtslos auf seine Umgebung aus. Ich tausche mit Max den Sitzplatz um den 14-Jährigen aus seiner Atmosphäre zu befreien und versuche die Situation zu beruhigen. Es gelingt mir aber nicht wirklich und so muss ich seine Abwehr und Verbitterung über mich ergehen lassen. Wie bekommen die köstliche Harira-Suppe, danach wird Fisch mit Gemüse gereicht. Als die Tajine mit dem Hammelfleisch auf den Tisch kommt verabschiedet sich unser Cicerone und ich bin frei. Inzwischen hat sich eine Viermannkapelle am Podium des Saales eingerichtet und durch Mikrofone verstärkt, ertönt Flötenmusik, die von Zupf - und Streichinstrumenten begleitet wird. Wieder ist die Lautstärke extrem gewählt, womit sich jegliche Konversation erübrigt. Doch das Hammelfleisch ist exzellent zubereitet. Später wird noch gedünstetes Hühnerfleisch aufgetragen, Süßigkeiten in verschiedenen Variationen und natürlich Minzetee, ect. Es war ein echte Essorgie, die uns geboten wurde – umrahmt von ungewöhnlicher Musik – und noch ungewöhnlicherem Publikum. Neben einer Handvoll Einheimischer war auch eine Gruppe Reisender aus China, Japan, Vietnam (?) zum Festessen geladen. Sie saßen nahe bei der Musik und bewahrten uns von dem obligatorischen Reihentanz – nur Nikolaus mischte sich eine zeitlang mutig und entschlossen unter die Tanzenden.
Um 12 Uhr mitteleuropäischer Zeit, also hier um 11 Uhr feierten wir unser privates Neues Jahr. Danach zog ich mich zurück, um zu Hause anzurufen. Später, als die Ursehnsucht nach Pummerin und Donauwalzer nachgelassen hatte, ging ich wieder zu meinen Reisefreunden zurück. Es war eine Viertel Stunde vor zwölf und alle waren in gehobener Stimmung. Sie trugen Mützen, Hüte und Augenmasken aus Buntpapier (ein Geschenk des Hauses) und hatten mit Konfetti und Faschingsschlangen den Tisch dekoriert. Die Musik spielte ohrenbetäubend laut und alle warteten auf Mitternacht. Dann war es so weit – und die Trommler verwandelten sich in „Alphornbläser“. Und sie bliesen in die Hörner lange und ausdauernd – und schließlich war das Fest zu Ende.
Mit den versprochenen Fossilien, geschliffen und in roher Form, begann unsere Reise ins Neuen Jahr. Es war still in der Steinmetz-Werkstatt an diesem Morgen – wie am ersten Jänner des neuen Jahres auch nicht anders zu erwarten. (Oder besser wegen des Hammelfestes, das fünf Tage lang gefeiert wird) Eigentlich waren die Marmorplatten, aus denen die großen Pfeilmuscheln des Pleistozän heraus geschliffen waren, wunderschön gearbeitet, aber so unendlich kalte Dinger. Als Brunnenplatten im Garten vielleicht noch vorstellbar, aber nicht als Tischplatten und Spiegelrahmen, wofür man sie hier auch verarbeitet. Besser gefielen mir die Bruchstücke, wo die „Skelette“ der Quallen und Ammoriten ohne besondere Kunst von Verkrustungen befreit in ihrer einfachen Schönheit präsentiert wurden. Dennoch nehme ich einige Kleinigkeiten mit; wie z. B. Anhänger und Aschenbecher aus schwarzem Marmor mit versteinerten kleinen Ammoriten, alle hübsch zurecht geschliffen. Und die Freunde daheim freuen sich wirklich über diese seltenen Kostbarkeiten. Warum das so ist? Über die merkwürdige Auswirkung von Angebot und Nachfrage auf unsere Wünsche haben sich allerdings schon viel weisere Leute den Kopf zerbrochen.
Weiter geht es durch karge Landschaft hinein in das Hinterland der Oase Tifilalet. Immer wieder ergeben sich malerische Ausblicke auf kleine Dörfer mit würfelförmigen Häusern und aufragenden Türmen, mit weiß gestrichenen Zinnen geschmückt. Letztere fangen den Blick wie unsere heimischen Kirchtürme – doch hier schützen sie Vorratskammern und dienten früher wohl auch zur Verteidigung. Moscheen, deren Minaretts in den Städten hoch aufragen, gibt es in diesen armen Regionen nur selten. Teilweise wirken die Häuser noch gepflegt und bewohnt, dazwischen schieben sich aber immer wieder verfallenden Lehmbauten, die wie Kulissen wirken und nur leere Räume umgeben.
Immer weiter windet sich die Straße in die Berge hinauf. Die Landschaft ändert sich kaum – wo das Flusstal sich verbreitert wird die oasentypische Vegetation sichtbar, dahinter die rötlichen Lehmbauten – dann wieder verödet das Flusstal, weil es für die landschaftliche Nutzung zu eng wird, um wenige Kilometer danach wieder eine neue Flussoase entstehen zu lassen Später geht es steiler bergan zwischen nackten felsigen Regionen bis wir schließlich wir auf einer größeren Parkfläche anhalten und uns plötzlich in einer sehr vertrauten Umgebung wieder finden. Links und rechts ragen Felsen auf. Dazwischen gibt es dünnblättrige Laubbäume und Sträucher und mitten drinnen einen klaren Flusslauf, der mit demselben murmelnden Geräusch über die Steine fließt, wie in unseren Bergen. Wir spazieren weiter durch einen engen schattigen Felsdurchlass und stehen in gleißendem Sonnenlicht inmitten einer grandiosen Felslandschaft. Vor uns weitet sich das Tal. Unter uns sind neben dem hellen Fluss Beete mit Gemüse angelegt und auf der senkrechten Felswand über uns turnen Sportkletterer quer über die Wand.
Ich bin überzeugt, dass einige von ihnen sicher aus Österreich kommen – weil unsere Leute überall sind, wo es herausfordernde Gebirgslandschaften gibt. Und es gibt hier auch eine Gaststätte im alpenländischen Stil. Es fehlen zwar Walmdach und Schindeln, aber in der Gaststube ist es warm und gemütlich. Wir versinken in den Sitzpolstern um einen runden Tisch und freuen uns auf das Essen – und es ist köstlich, was uns gereicht wird: Hammeleintopf mit Weißbrot und Minzetee. So ein bisschen neidig könnten sie schon werden unsere Hüttenwirte bei diesem Essen...
Obwohl wir hier in der Bergeinsamkeit gelandet sind, gibt es trotzdem fliegende Händler – sie bieten Stoffe, Schals, Teppiche, Schmuck und selbstgefertigte Sandalen an. Ich kaufe einen alten Kelimpolster, der hier wahrscheinlich schon einige Jahre dem Staub und dem Regen ausgesetzt war. Zu Hause nach dem Waschen war er spürbar leichter und die dunkelocker Färbung verwandelte sich in strahlendes Gelb.
Unsere nächste Station wird großartig angekündigt. Es wird uns ein alter Freund durch die Oase von Inerhir begleiten und uns alles erklären, was wir wissen wollen. Ich bin gespannt auf die Führung und erwarte mir: Was? Das weiß ich nicht, aber auf jeden Fall wird es etwas Besonderes sein... so denke ich. Zunächst klettern wir den steilen Abhang von der Straßentrasse hinunter zur Talsohle, wo der Fluss dahinmäandriert und sich links und rechts der Ufer grünen Flächen ausbreiten. Wir klettern zunächst über abgebrochenen Baumäste, übersteigen verfilzte und schlammbedeckte Grasbüschel – richten uns auf und gehen auf schmalen festgetretenen Pfaden weiter in die Grünlandschaft hinein. Spätesten jetzt müsste uns der Schutzengel von Marokko zurückhalten, wie seinerzeit Abrahams Engel, weil in den nächsten Augenblicken alle meine paradiesischen Bilder, die sich mit dem Begriff Oase in meiner Vorstellung verbinden, langsam aber sicher gelöscht werden. Wo war die Schönheit und Einzigartigkeit der Vegetation, die orientalische Blütenpracht der Oasen meiner Vorstellung, geblieben?
Hier sah es aus, wie nach einer Überschwemmung der Leitha in meinemHeimatdorf. Überall war es feucht und grau vom Überschwemmungsschlamm – die Beete und kleinen Felder waren mit dickflüssigem Brei bedeckt – grüne Pflanzen kümmerten nur an den Rainen der Felder dahin – mit einem Wort eine zerstörte Landschaft. Der Eindruck von grüner Vegetation, der die Flussoasen auszeichnet, entsteht vor allem durch die Belaubung der Palmen und Zwergeichen. Doch wenn man diese Bäume genauer betrachtet, dann merkt man, wie schwach und krank sie sind. Die Palmen erkranken an einer bestimmten Milbe, der sie keinen Widerstand entgegensetzen können. Nur genetisch resistente Palmen, die neu angepflanzt werden müssten, könnten dem typischen Oasenbaum eine Zukunft geben. Doch das Mittel ist zu kostspielig und daher werden die Oasen der Zukunft ohne Palmen auskommen müssen – oder das Mittel der einheimischen Bevölkerung beginnt zu wirken. Mit Feuer und Rauch versuchen sie den Milben Herr zu werden, indem sie die kranke Palme gleichsam einhüllen in Rauch und Hitze, um die Milben zu töten. Zweifellos ein aufwendiges und teures Verfahren, wenn man das mangelnde Brennmaterial in Betracht zieht. Während ich diesen Überlegungen noch nachhänge, treten wir auf eine größere Ackerfläche hinaus, die von der Überschwemmung verschont wurde und so ein bisschen den Zauber einer intensiv bearbeiteten Kulturlandschaft ausstrahlt. Die kleinen Felder, die von überhöhten Rändern rasterförmig eingerahmt sind, wirken so zart und empfindlich, wie die kleinen Kleepflanzen, die in manchen dieser handtuchgroßen Feldern heranwachsen. Vorsichtig folge ich den schmalen Pfaden, die zwischen den Feldern ausgespart wurden und beginne meine Oasenbild neu zuüberdenken – diesmal ohne literarische Übertreibung, aber mit großer Hochachtung gegenüber der Mühe und Geduld, die hier Menschen und Pflanzen aufbringen müssen, um zu überleben.
Der Besuch im Teppichlager „der befreundeten Familie“ bildet den Schlusspunkt unserer Wanderung. Ein bisschen eilig laufe ich durch die Räume des Lagers bis zu einem bestimmten Ort. So ganz nebenbei habe ich mitbekommen, dass in einem Raum Kelims aufbewahrt werden, die mich magisch anziehen. Ob es erlaubt ist hier zu sein und sich in Farben und Mustern zu verlieren, das frage ich mich gar nicht – ich mache es einfach und verliebe mich in einen hellblauen Kelim mit einfachen Rautenmustern. Als ich nach einem ähnlichen Modell aber in einer anderer Farbe Nachschau halte, werde ich indirekt belehrt – dass ich hier keine Gewebe vor mir habe, das nach Vorlage gearbeitet und in verschiedenen Farben erzeugt wird – sondern Teppiche, die wirklich von einer Berberfrau an einem einfachen Webstuhl hergestellt wurden.
Aufgeregt suche ich weiter und finde noch zwei schöne schmale Kelims, die ich mir schon an den Wänden zu Hause vorstelle, während einer der Besitzer den kleinen Raum betritt und den Zauber meiner Teppichzwiesprache bricht. Mit ihm betritt die dunkle Seite des Geschäftslebens den Raum. Er möchte, dass ich kaufe und Geld hier abgebe – möglichst viel, damit sich das Ganze lohnt. Seine Gegenwart signalisiert Realität und die Notwendigkeit zurückzukehren dorthin, wo Touristen sein dürfen, wo sie Vorträge hören und Tee serviert bekommen. Das alles habe ich unbewusst verweigert. Allerdings bin ich bereit meine Kelims auch mit zunehmen. Dass sich das Feilschen um den Preis sehr lange hinzieht, versteht sich von selbst. Es war mühsam und erforderte viel Geduld von meiner Seite Der Weg nach Ouazarte war noch weit --Wir waren müde und versanken schweigend in unseren Sitzen – wird er gleich wieder erzählen unser Führer? Ja! Er tut es und weiter geht es durch felsige Landschaft, während er uns von den Feindseligkeiten der Berberstämme untereinander erzählt – die Geschichte von den Glaouis aufrollt und uns die Lebensgeschichte des letzten ihrer Stammesfürsten nahe bringt. Er war schon eine besondere Gestalt dieser letzte große Fürst der Glaoui! Ein Held eigenen Zuschnitts, opportunistisch und gleichzeitig frei – persönlich anspruchslos und gleichzeitig Besitzer von luxuriös ausgestatteten Palästen einschließlich eines beeindruckenden Wagenparks. Er freite Tscherkessinen als Hauptfrauen und lässt vornehme Berberinnen nur als Nebenfrauen gelten. Die Liste der Parodoxien seines Lebens ließe sich beliebig fortsetzen; morgen werden wir eine seiner schlossartigen Wohnburgen besuchen.
Doch schließlich kniete der jüngste Spross der Familie am teppichbedeckten Betonboden und nähte zwei von meinen Kelims in blaue Plastikplanen. |
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Indessen wird die Landschaft immer weitläufiger und eindrucksvoller. Dazu kommt das abendliche Sonnenlicht, das die kulissenartig gebaute Landschaft mit rotem Schimmer überzieht. Fremd und unwirklich wirken diese lang gestreckten Siedlungen an den Hängen der Hügeln, die kahl und ohne Vegetation hinter den Häusern aufragen. Langsam windet sich der Bus die Straße hinauf: hinein in die Provinz, die vornehmlich von Berbern bewohnt wird und wo wir in einem kleinen unbedeutenden Ort aussteigen dürfen. Die Sonne ist bereits untergegangen und der Fluss glitzert im Widerschein der Dämmerung. Wir betreten ein Cafe und plötzlich habe ich das Gefühl dabei zu sein. Besser gesagt, ich beginne die Atmosphäre zu spüren, in der sich die Menschen hier bewegen. Es ist ein großer Raum mit einer kleinen Theke, woran sich Männer lehnen, die nur schnell etwas trinken wollen. Sie geben die Getränke weiter in die zweite Reihe der Wartenden und hinüber zu den Tischen, wo einige Jugendliche Billard spielen.
An der seitlichen Wand hängt ein stummer Fernsehapparat daneben irgendein Plakat. Sonst ist die Wand weiß und leer. Obwohl sich die meisten relativ laut miteinander unterhalten, geht von den Männern eine Ruhe aus, die mich in ihren Bann zieht. Warum das so ist? Das weiß ich nicht! Doch es fühlt sich wunderbar an hier zu sein...
In Ourzasarte wohnen wir in dem schönsten Hotel unserer Reise. Die Zimmer sind nicht nur aufwendig, sondern sehr geschmackvoll eingerichtet. Das Hotel wurde ursprünglich vom Club Mediteranee gebaut und eingerichtet. Leider müssen wir uns beeilen und sehr bald hinunter zum Abendessen. Gerne hätte ich den dunkelbraunen Schreibtisch benützt um zu schreiben. Einfach nur an diesem schönen Möbel Zeit zubringen – das wäre schön... Der Speisesaal empfängt uns warm und gemütlich. Origineller Kontrast dazu: die verglaste Seitenwand, die einen direkten Blick in das hauseigenen Schwimmbecken erlaubt. Nur fehlen im Moment Nixen und Wassermänner um das Bild zu vervollständigen. Dennoch können wir uns an dem köstlichen Essen freuen und den aufregenden Tag mit guten und warmen Gesprächen ausklingen lassen.
Der folgende Morgen ist klar und heiter – nach einem opulenten Frühstück, das nichts zu wünschen übrig lässt, klettern wir in den Bus und fahren in eine der Residenzen des Fürsten von Glaoui.
Thami Ben Mohammed el Mezouari Glaoui, kurz El Glaoui, der „Löwe des Atlas“ und „Sultan des Südens“ war der Stammesführer (Caid) des bedeutenden Chleuh-Berberstammes und spätere Pascha von Marrakesch. Er wurde als Sohn des Caid El Mezouari in der Kasbah Telouet in der Nähe des Tizi n Tichka (Tischka Pass) geboren. Gemeinsam mit seinem Vater half er zunächst Sultan Moulay Hassan (1873-1894) bei der Unterwerfung der aufständischen Stämme. Dabei erhielten sie besondere Privilegien und konnten ihren Machtbereich bis weit in den Süden hinein (Dràa-Tal) ausdehnen. Unter dem schwachen und minderjährigen Sultan Abd el Aziz wuchs ihre Macht. Im Jahre 1909 ließ sich El Glaoui von seinem Bruder Mandani zum Pascha von Marrakesch ausrufen. Kurz darauf wurde er von Moulay Hafid, den er in seinem Kampf um den Thron gegen seinen Bruder Abd el Aziz unterstützt hatte zum Großwesir des Reiches ernannt. Überlegen und klug schlug er sich 1912 auf die Seite der Franzosen. Er half den französischen Soldaten bei der Rückeroberung von Marrakesch, dass 1912 von El Hiba und den Saharanomaden eingenommen wurde und bei der Unterwerfung der südlichen Nomadenstämme. Daraufhin wurde er ein enger Vertrauter der Franzosen, die ihm uneingeschränkte Macht über den Süden Marokkos einräumten. In seinen Märchenpalästen in Marrakesch lebte er ihm Überfluss, umgeben von allen modernen Luxusgütern bis hin zu einem ausgedehnten Wagenpark von Luxuslimosinen. Seine Söhne residierten als Kalifen in den Kasbahs Telout und Taourirt in Ouarzazate. Als Mohammed V. den Franzosen mit Unabhängigkeitsideen kam, belagerte El Glaoui den Sultan in seinem Palast in Fes und war maßgeblich an dessen Deportation ins Exil beteiligt. Als aufständische Rebellen seine Macht außerhalb seines Stammes immer mehr einschränkten, beschloss er, sich mit Mohammed V. zu versöhnen. Nach der Annullierung des Protektoratsvertrages bei einem Treffen in Frankreich kam er nach Marokko zurück, wo er bald darauf starb. Nach der Unabhängigkeitserklärung am 2. März 1956 wurde der Familienbesitz der Glaoui vom Staat eingezogen und die Privilegien des Stammes im Rahmen der neuen Staatsordnung annulliert. Ein Schicksal, das sich nahtlos in die wechselvolle Geschichte der Herrscherdynastien von Marokko einfügt. Ibn Chaldun(1332-1406), der große muslimische Geschichtsphilosoph, der in Tunis geboren und an der Kairaouine Universität in Fès Theologie, islamisches Recht, Logik und Mathematik studiert hat, beschäftigte sich schon sehr früh mit diesem Phänomen. Im Jahre 1375 zog er sich nach Algerien auf die Festung Ibn Salama zurück, um in der Einsamkeit die „Mouqaddima“ zu verfassen, das erste Werk der modernen rationalistischen Geschichtsschreibung. Darin beschreibt er die Geschichte der Berber und erklärt die wiederkehrenden Krisen des Maghreb aus dem ständigen Ringen zweier Gesellschaftsformen um die Macht, nämlich dem Nomadentum einerseits und der städtischen-arabischen Kultur andererseits. Nach seiner Theorie stürzen junge vitale Nomadenstämme die alten, im städtischen Kulturkreis dekadent gewordenen Dynastien. Sie erringen die Macht, blühen auf, degenerieren dann jedoch ihrerseits und werden wieder von neuen Nomadenstämmen vertrieben. In seiner Vorrede zum „Quitab al Ibar“ (Buch der Weltgeschichte) stellt er geschichtsphilosophische und soziologische Theorien auf, die unglaublich modern anmuten. Seine wirtschaftlich orientierte Hauptthese lautet:
„Die sozialen Gruppierungen eines Staates und ihrer Beziehungen untereinander hängen wesentlich von den Differenzen zwischen ihren ökonomischen Lebensweisen ab.“ Ibn Chaldun starb in Kairo; sein Grab befindet sich auf dem Friedhof der Sufis...
Wir befinden uns auf den Spuren beider Männer, wenn wir die Kasbah de El Glaouih betreten. Hier hat der mächtige Fürst zumindest zeitweise residiert und Ibn Chalduns Theorie wird durch den Niedergang der Dynastie im Neubeginn der marokkanischen Staatsmacht nach dem Tod seines großen und klugen Stammesführers, dem Letzten Glaoui, bestätigt. Die Kasbah Taourirt wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Stampflehm errichtet und hat nach fachlicher Einschätzung nur einen sehr zweifelhaften künstlerischen Rang. Zuviel stilistisch Ungereimtes findet sich an diesem Bauwerk, das einfach unecht und gewollt wirkt. Das gilt besonders für die weit gestellte Zinnenbekrönung der Dachfronten, die nur mehr zur Zierde angebracht wurden. Die in den Lehm gekratzten linearen und leicht vertieften Elemente bestehen fast ausschließlich aus kleineren und größeren Dreiecksmotiven, bzw. treppenartig abgestuften Zierformen, während die traditionellen Rautenmuster fehlen. Einige Räume im Inneren sind mit Stuck- und Holzarbeiten ausgestattet, die dem ganzen Interieur eine etwas kitschige Atmosphäre verleihen…
Und dennoch umgibt diesen Bau eine besondere Aura. Die eckergeschmückten roten Lehmwände umgeben einen quadratischen Hof, der noch ein wenig das Leben zu reflektieren scheint, das sich hier vor gar nicht so langer Zeit abgespielt hat. Im Inneren des Gebäudes überwiegt allerdings der museale Eindruck. Überall weißgetünchte Wände. Kontrastreich gestaltete Holzdecken, die aus Olivenbaumästen gleichsam geflochten, weiß verputzt und teilweise rot bemalt sind, begleiten unseren Aufstieg in die höheren Räume. Eine Besonderheit ist ein durchgehender Schacht, der das Erdgeschoß mit den hoch oben gelegenen Räumen verbindet und zur Klimatisierung der oberen Räume diente. Auffällig ist, dass alle Räume sehr niedrig sind und nur das große „Gesellschaftszimmer“ im Oberstock eine repräsentative Höhe erreicht und mit einer bunten mit Holzschnitzereien verzierten Decke ausgestattet ist. Die meisten Dekorationen sind in klaren, oft sehr grellen Farben gehalten – die nicht gerade elegant anmuten, dem Ganzen aber große Lebendigkeit verleihen.
Die Inhalte der Ausschmückung sind uns schon bekannt. Es dominiert das
Spinngewebe Gottes, das hier auch in Holz ausgeformt ist. Zudem findet es sich immer wieder in den bogen geschmückten Zierfeldern unterhalb der Decken und füllt in einem Raum die ganze Deckenfläche aus. Diese Schnitzereien sind schön und eindrucksvoll, auch wenn sie nicht wirklich alt sind. Mir gefallen auch die farbigen Umrahmungen der Türen, die muschelförmigen Ausmalungen der Fensterlaibungen und die Frauenräume, die ich mir mit meiner Fantasie ausmale. In einem der Gesellschaftsräume sind kleine Nischen nebeneinander ausgespart – und davor eine bankähnliche Stufe errichtet. Was liegt näher, sich diesen Raum mit Teppichen bedeckt und mit vielen schönen Frauen vorzustellen, die sich lässig auf der weichen Bank zurücklehnen und dabei höchste Bequemlichkeit genießen?
Doch das ist nur die eine Seite des Bildes. Die Abgeschlossenheit des Harems für Fremde hat zu allen Zeiten Fantasien genährt. Und die im Westen entstandenen Bilder und Vorstellungen von dieser orientalischen Welt decken sich wahrscheinlich kaum mit der Realität des Lebens dieser Frauen. Schon allein die Tatsache, dass sie immer in ihren Räumen leben mussten, die klein und niedrig waren, nicht hinaus durften, kaum ordentliche Bewegung kannten, ständig mit Menschen zusammen sein mussten, die nicht unbedingt freundschaftlich Gefühle für einander hatten. Diese Gedanken allein genügen mir, um mich für mein Leben im „Hier und Jetzt“ immer wieder zu bedanken.
Die Decke des Audienzzimmers ist durch einfache Rundsäulen in der Mitte abgestützt. Es fehlen Ausschmückungen und Bemalungen – ein Buisnessraum, der auf alles Beiwerk verzichtet, das von der Gestalt des mächtigen Fürsten ablenken könnte. |
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Der Schlafraum des Letzten Glaoui spricht allerdings eine andere Sprache. Dieser ist ein großer nahezu quadratischer Raum mit Fensteröffnungen auf jeder Seite. Von hier aus konnte er in alle Richtungen blicken, so wie ein Turmwächter von seinem erhöhten Standpunkt aus. Nach der Philosophie des Feng shui gibt es in diesem Raum kaum einen Platz, wo er sich in eine „ruhige Ecke zurückziehen konnte“. Er war also immer in Aktivität, immer aufmerksam, immer auf dem Sprung. Fürchtete sich der Mächtige? Nein, gewiss nicht, würde er uns antworten, aber ich muss immer bereit sein, alles was meine Position gefährden könnte, vorausschauend zu bedenken. Immer einen Schritt dem Kontrahenten voraus – das ist marokkanische Fürstenart und diese war und ist schließlich immer erfolgreich…. Die Schmuckelemente des Fürstenzimmers gleichen denen, die wir schon im Harem gesehen haben, allerdings mit interessanten Variationen. Die nach Mekka gerichtete Wand ist ganz in weiß gehalten und mit einem kreisförmigen ebenso weiß gehaltenen Spruchband mit heiligen Texten verziert. Die übrigen Wände sind mit Kachel bis Schulterhöhe geschmückt, die Fenster mit schönen Gittern abgesichert und die Holztüren üppig bemalt. Auch die Fensterlaibungen sind mit Ornamenten geschmückt und wo es möglich war, mit Zierbändern umrahmt. Alles ist stattlich, aber es fehlt dem ganzen an einem einheitlichen künstlerischen Konzept. Die Dekoration wirkt schnell hingepinselt – so als könnte es dem Bauherrn nicht schnell genug gehen – und wahrscheinlich bin ich mit meiner Annahme von der Realität gar nicht so weit entfernt. Langsam steigen wir durch das enge Stiegenhaus hinunter in den Hof, durchqueren ihn und bewundern noch die kleine Muskete, die dem Fürsten von Glaoui vom Sultan in jungen Jahren geschenkt wurde. Etwas mickrig nimmt sich dieses Kampfgerät hier in der Ecke aus. Die Häuser der Menschen haben sich viele Jahrhunderte in ihrer Struktur kaum geändert – auch Hochhäuser sind nur gesammelte Wohneinheiten – doch in der Entwicklung der Waffen manifestiert sich zweifellos eine der größten Genieleistung des letzten Jahrhunderts…
Wir besteigen den Bus und machen uns auf die Fahrt über die Berge, Richtung Marrakesch. Wieder durchfahren wir kahles und weites Bergland entlang des Oberlaufes des Oued Draa. Einmal halten wir, um uns in die Umgebung zu versenken. Vor uns der mäandrierende Flusslauf, darüber eine zerfallende Kasbah, dahinter die schneebedeckten Gipfel des Hohen Atlas. Später treffen wir auf eine Gruppe von „stillen“ Wanderhändlern, die Steine und alte Gefäße anbieten. Auch ein Schlangenbeschwörer ist dabei. Während ich dem alten Mann zuschaue, wie er selbstvergessen mit seinen Tieren umgeht, berührt mich etwas ganz seltsam. Ist es das völlige Desinteresse an uns, die völlige Eingezogenheit in sich und den Raum, der ihn umgibt? Ich weiß es nicht. Ich spüre nur, dass ich hier fremd bin – und das Fremdsein in einer Tiefe erlebe, die mich im Augenblick von allem trennt, was mir normalerweise selbstverständlich und vertraut ist.
Langsam schlendere ich zurück zum Bus und sehr bald sind wir an einem wichtigen Etappenziel auf dem Weg nach Marrakesch angelangt. Es ist die Kasbah Tiffoultoute, die aus dem Erbe der Glaouis stammt. Eine Ansammlung von roten Lehmschachteln, überragt von viereckigen oben zulaufenden Türmen, die dem Ganzen ein etwas bizarres Aussehen verleiht, grüßen uns vom Hügel jenseits des Flusses.
Doch bevor wir dahin aufbrechen trinken wir Minzetee in einem Straßencafe, das diesen Namen kaum verdient. Der Raum, worin die Getränke aufbewahrt oder der Cafebetrieb stattfinden sollte, ist gähnend leer. Nur ein wackeliger Tisch und ein Kühlregal, das leer herumsteht, finden sich in diesem düsteren Gelass, das einen prächtigen Hintergrund für jede Art von Psychothriller abgeben könnte. Dazu passt auch, dass der Besitzer oder Kellner diese Etablissements über kein Kleingeld verfügt -- was mich dazu veranlasst, die ganze Gruppe einzuladen. Dass er mit meinem Geldschein wieder woandershin wechseln gehen muss, versteht sich beinahe von selbst. Der unterschwelligen Ironie möchte ich aber entgegenhalten, dass in dieser Gegend offensichtlich eine für uns unvorstellbare Armut herrscht. Das verlegene und angespannte Gesicht des jungen Mannes, der unsere Bestellungen entgegennahm, werde ich kaum vergessen, auch wenn es kein Foto von ihm gibt… Später auf dem Fußweg zur Kasbah treffen wir einen Österreicher, der hier eine einfache Pension einrichten will. Mir erscheint das sinnvoll, unserem Reiseleiter allerdings sinnlos, weil der Tourismus hier keine Zukunft habe. Hope against hope, ist es nicht eine Paradoxie, die jedes menschliche Bemühen umfängt? Wir überklettern den Fluss auf einer schmalen Steinbrücke, nicht ohne wieder einen Obolos in den fordernd ausgestreckten Bubenhände zurückzulassen und wandern den Fußpfad hinauf zum Haupteingang der Kasbah. In der Toranlage sind gerade drei Männer dabei einem Hammel das Fell über die Ohren zu ziehen. Ganz konzentriert und eifrig bei der Sache, lassen sie sich von uns nicht stören. Dann besorgt unser verärgerter Führer die Tickets, die neuerdings zu lösen sind, während die Gemäuer jahrelang gratis zu besichtigen waren. Wir steigen steile enge Gassen hinauf, durchqueren ehemalige Wohnräume und klettern in leere Vorratstürme hinein. Der Verputz der Mauern fühlt sich rau an und die Decken aus verkrüppelten Holzstämmen wirken nicht mehr sehr vertrauenswürdig. Manchmal überraschen uns Spuren einfacher Malereien in den verlassenen Wohn-räumen. Meist sind es Schmuckbändern von einfachen Motiven und klaren Farben, die den kargen, weiß getünchten Räumen einen besonderen Charme verleihen. Doch je länger ich in dieser seltsamen Ansiedlung herum wandere, umso mehr gewinne ich den Eindruck in Kulissen herum zuspazieren. Und dieser Eindruck täuscht nicht. Tatsächlich wurden hier Außenaufnahmen zu Lawrence von Arabien, zur Letzten Versuchung Christ gedreht, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Auf der obersten Terrasse genieße ich die Einsamkeit eines abgelegenen Winkels und versenke mich in die Landschaft. Es war ein ausgesucht schöner Platz, den sich die Fürsten von Glaoui für ihre Kasbah hier ausgesucht haben und ein sicherer dazu. Hier herauf konnte sich niemand unentdeckt heranschleichen…. Beim Abwärtssteigen freue ich mich wieder an den schlichten und schönen Mustern der Außenwandverziehrungen. Hier gibt es die berberischen Rauten, die in Taourirt fehlen. Alles in allem eine harmonisch geschlossene Anlage, geboren aus Notwendigkeit und Sinn für Proportionen…
Weiter geht unsere Fahrt über den Tischkapass, hinunter in die fruchtbare Landschaft um Marrakesch. Das Mittagessen gibt es unterwegs in einem Restaurant, das sich eher wie eine einfache Almhütte präsentiert – so eingeschränkt ist das Menüangebot. Doch entschädigt der Ausblick von der Cafeterrasse für alle anderen Unzulänglichkeiten und schließlich bekommen wir ganz ordentliches Essen und sind dankbar und zufrieden. Ein Detail am Rande: Es war so warm auf der Cafeterrasse, dass wir die einzelnen Sonnenstrahlen der Wintersonne fast körperlich zu spüren meinten.
Die Fahrt geht weiter durch immer sanfter werdende Berg- und Hügellandschaften hinab in die weiten fruchtbaren Landschaften um Marrakesch. Währenddessen erfahren wir von unserem Reiseleiter viele Details zur Geschichte des Landes.
Dann ist es endlich so weit. Wir berühren die Peripherie von Marrakesch und fahren lange entlang der Parkmauer des ehemaligen Palastgartens, die schon in abendliches Licht getaucht ist. Schließlich halten wir vor einem großen Hotel in der Ville Nouvelle, das uns zwei Nächte beherbergen wird. Neben dem unserem erheben sich andere Hotelbauten – das heißt, dass man hier ein Touristenviertel im großen Stil aufzubauen versucht. Marrakesch verfügt heute über mehr als 18 000 Betten so erfahren wir – für mich eine Zahl, mit der ich keine reale Vorstellung verbinden kann. Doch sei es wie es sei. Das Zimmer ist in Ordnung. Ich blicke auf ein leeres Schwimmbassin und Bau-kräne – das übliche backstage in Großstädte, wo immer gebaut wird… Zum Abendessen gibt es ein Buffet mit warmen und kalten Speisen – sehr verführerisch und wohlschmeckend – allerdings gibt es in dem moslemisch geführten Hotel keinen Alkohol und wir müssen für heute und morgen auf unseren liebge-wordenen Rosewein verzichten.
Marrakesch, das Zentrum des Südens, eine der vier Königstädte Marrokos und gleichzeitig eine der faszinierendste Städte der Welt, .. ist eine Berbergründung. Daran erinnern z. B. die geradlinig geführten Straßen innerhalb der Medina, die sich an den Vorbildern der Ksour der Oasensiedlungen zu orientieren scheinen oder an der im Norden nahezu unbekannten Platzarchitektur der Jemaa el Fna. Die Geschichte von Marrakesch ist eng verknüpft mit der Entstehung eines unabhängigen Königreiches durch die Berberdynastie der Almoraviden. Um 1062 wurde es von Youssef Ben Tachfin gegründet, um von hier aus den Hohen Atlas besser kontrollieren zu können. Zu dieser Zeit wurde die Kasbah Dar al-hajar nahe der Stelle der heutigen Koutouba Moschee erbaut. Unter seiner Herrschaft und der seines Sohnes, entwickelte sich Marrakesch zur Hauptstadt und einem Handelszentrum. Es entstanden Moscheen und Paläste und die mächtigen Stadtmauern. Zudem wurden Gärten und Bewässerungssysteme angelegt. Durch ihr aufgeschlossenes Kultur - und Geistesleben zog die Stadt schon damals bedeutende Gelehrte an. Doch der von andalusischer Sitte geprägte höfische Glanz der späten Almoraviden rief auch Gegner auf den Plan. Mohammed Ibn Toumert (Bekenner der Einheit), der Führer der Almohaden versammelte seiner Anhänger, um ihnen den Jihad, den heiligen Krieg, gegen die Ketzer und Abweichler zu predigen. Im Jahre 1147 wurde Marrakesch angegriffen, allerdings erfolglos. Daraufhin brachten die Almohaden in den folgenden Jahren zunächst den ganzen Norden des Landes unter ihre Kontrolle und bei einem neuerlichen Angriff im Jahr 1147 fiel auch Marrakesch. Abd el Moumen, ihr neuer Anführer, gab die Stadt zur Plünderung frei; sämtliche weltliche und religiöse Bauten der Vorgänger wurden in einer Art religiösen Reinigung niedergerissen.
Kurze Zeit später begann man mit dem Wiederaufbau der Stadt, zu dem auch der Bau der Koutoubia Moschee, sowie die Anlage riesiger Wasserspeicher und Gärten nach andalusischem Vorbild gehörten. Die sogenannte maurische Kunst, ein bereits unter den Almoraviden entwickelter Mischstil, der berberische, arabische und andalusische Stilelemente in sich vereinigte, erlebte in den Minaretten, Torbauten und Palästen (die leider nicht mehr erhalten sind) eine frühe Blütezeit. Erneut wurde Marrakesch zu einem geistigen Zentrum, das Musiker, Dichter, Gelehrte (z. B. Averroes aus Cordoba) anzog. Nach Yakoub el Mansours Tod verlor die Stadt an Bedeutung und verfiel langsam. Unter den Meriniden entstanden noch einige Medersen, doch wurde Marrakesch als Hauptstadt von Fès abgelöst. Erst 1524 brachten die Saaditen neuen Aufschwung. So wurde die Ben Youssef Moschee wieder aufgebaut und unter Ahmed el Mansour (1576-1602) der El-Badi Palast und die Saaditengräber errichtet und prachtvoll ausgestattet. Bedingt durch die geographische Lage zwischen Sahara und dem Atlantik, entwickelte sich die Stadt immer mehr zu einem wichtigen Handelszentrum. Die noch heute herrschenden Alaouiten verlegten ihre Haupt- und Residenzstadt 1667 wieder nach Fès und unter Moulay Ismael nach Meknes. Für seine Palastbauten in Meknes zerstörte er die Saadierbauten und den El Badi-Palast und benützte sie als Steinbruch. Einige der Alaouitenherrscher bevorzugten Marrakesch als Nebenresidenz und errichteten nach und nach wieder einige bedeutende Gebäude. So gewann die einstmalige Hauptstadt unter Moulay Hassan (1873-1894) und seinem Sohn Moulay el Aziz viel von ihrer alten Bedeutung zurück. Ab 1898 dominierten Thami el Glaoui und seine Familie die Stadt. Er selbst herrschte als mächtiger Pascha recht unabhängig von der zentralen Gewalt. Viele vermögende Geschäftsleute ließen sich zu dieser Zeit Paläste erbauen. Im Jahre 1912 übernahmen die Franzosen die Macht über Marrakesch, indem sie den Aufruhr um die Anwärterschaft auf das Sultanat niederschlugen. Sie erbauten die Ville Nouvelle (Gueliz), doch stagnierte in der ersten Hälfte des 20. Jh. die Entwicklung von Marrakesch im Vergleich zu Rabat und Casablanca. In den letzten Jahrzehnten wuchs die Stadt enorm und baut nun auf eine Zukunft als Konferenzort und auf den Tourismus.
Wir beginnen unsere Stadtbesichtigung mit einer Wanderung durch die Menara Gärten. Zuallererst bestaunen wir einen kleinen Pavillon, der im letzten Jahrhundert als Fotomotiv vor einem großen Wasserspeicher errichtet wurde. Wir schlendern entlang des Bassins und blicken auf eine Wasseroberfläche von undefinierbarer Farbe.
Dann wenden wir uns der breiten gepflasterten Anlage zu, die uns direkt zur Koutoubia - Moschee leitet. Unterwegs sind immer wieder Springbrunnen eingelassen, die sich wunderbar als „paradiesische“ Fotomotive eignen. Darüber hinaus bestätigen Palmen und üppig blühende Zierhölzer die Glaubhaftigkeit des Satzes, dass die Wege des Herrn, symbolisiert durch die nahe Moschee, ins Paradies führen. Doch für uns verschließt sich dieses Paradies – wieder ist keine Rede davon, dass wir die altehrwürdigen Räume der Koutoubia Moschee besichtigen dürfen. Wir müssen uns mit der Bewunderung des Minaretts begnügen, das 1199 unter Youssuf Yakoub el Mansour fertig gestellt wurde und seine ursprüngliche Gestalt bis heute bewahrt hat.
Es wird berichtet, dass ein und derselbe andalusische Baumeister die “Familie“ der almohadischen Moscheentürme geschaffen haben soll. Als einziges Minarett, das noch während der Almohadenzeit vollendet wurde, spiegelt jenes der Koutoubia den Stil der damaligen Architektur am reinsten wieder und gilt daher als unerreichtes Vorbild aller marokkanischer Minarette bis heute. Das Minarett geht auf die omajadische Grundform zurück: auf einem eckigen hohen Schaft ruht ein kleinerer, gleichartiger Aufbau, der mit einer Kuppel abschließt. Auf der gerippten Kuppel erhebt sich eine acht Meter hohe Spitze, die mit vier vergoldeten immer kleiner werdenden Kupferkugeln geschmückt ist. Der Legende nach waren diese Kugeln ursprünglich aus Gold und aus dem Schmuck der Gemahlin von Yakoub el Mansour gefertigt. Wie beim Hassanturm in Rabat ist jede Seite anders gestaltet, und zwar in Abhängigkeit von der Rampe, die innen hinaufführte und unterschiedliche Fensteranordnung notwendig machte. Die monumentale Strenge des Turmschaftes wird durch mehrere kleine Fensterpaare und Einzelfenster aufgelockert. Sie werden umrahmt von Hufeisen-und Vielpass-bögen, die ihrerseits eckig eingefasst sind. Im oberen Teil des Turmes entstehen durch sich überschneidende Bögen in den Dekorfeldern, unendliche Rautenmuster. Den oberen Abschluss des Turmdekoration bildet ein zwei Meter breites Band aus grünen Mosaikkacheln, die durch schmale weiße Fugenkacheln voneinander abgegrenzt werden und hier erstmalig in der Architektur des islamischen Westens auftreten ( bzw. sich erhalten haben). Die Spitze bildet der sogenannte jamur ; er setzt sich zusammen aus eine Art Galgen, an den der Muezzin an Feiertagen die grüne Fahne des Propheten hisst, und vier übereinander gestellte Kugeln, die bereits im 10.Jh. am Campanile zu Cordoba nachzuweisen sind. Die symbolische Bedeutung der Kugeln ist ungeklärt. Doch finden sich Kugeln manchmal mit einem liegenden Halbmond als obersten Abschluss - als einem sehr früh entwickelten Zeichen des Islams - auf allen bedeutenden Moscheen und Grabbauten des Maghreb und der ganzen islamischen Welt.
Die monumentalen Ruinenreste des El Badi Palastes sind unser nächstes Ziel. Von der einstigen Pracht der herrlichen Bauten gibt es heute allerdings nur noch Spuren. Hinter dem Eingang erstreckt sich der weiträumige Innenhof der Palastanlage, in dessen Mitte ein riesiges, rechteckiges Wasserbecken eingelassen und von Grünanlagen umgeben ist. Dieser Innenhof soll nach dem Vorbild des berühmten Innenhofes von Granada angelegt worden sein, allerdings mit weit größeren Ausmaßen. Rund um den Innenhof erhoben sich an jeder Seite große Bauten: im Nordosten der Koublat el Hadra (Grüner Pavillon), im Südosten der Koublat ed Dahab (Goldpavillon), und im Südwesten der Koublat el Hyzuran, der nach der dunkel-häutigen Lieblingsfrau des Sultans benannt wurde. Vom Nordwestbau, dem Koublat el Hamsinija (Pavillon der Fünfzig), blieben umfangreichere Reste erhalten. In den freien Ecken zwischen den Gebäuden lagen kleinere Säulenhallen mit quadratischen Wasserbecken. Geschützt wurde das ganze
Palastareal von einer hohen Mauer mit Ecktürmen.
Die Palastanlage des El Badi wurde ein knappes Jahrhundert nach seiner Errichtung wieder zerstört, als Moulay Ismail die Gebäude für seine Bauvorhaben in Meknes als Steinbruch benutzte. Gleichzeitig wollte er, der die Saadier mit unbändigem Hass verfolgte, das Zeugnis ihrer Begabung und ihres Kunstsinnes vernichten. Diese Absicht des Moulay Ismael ist traurige Realität geworden. Phantasie und Vorstellungkraft reichen nicht aus, um aus den vorhandenen Mauerresten die einstmals größte und schönste Palastanlage des gesamten Mahgreb geistig zu rekonstruieren. Die Stampflehmmauern, die sich kahl und löchrig vor uns aufrichten bieten der Phantasie keine Nahrung. Nur ein Doppelkapitell, das am Boden als verwaistes Relikt liegengelassen wurde vermittelt eine Ahnung von der hohen Kunstfertigkeit, mit der dieser Palast erbaut und geschmückt wurde. Ein bisschen Trost bietet auch der Ausblick von der Terrasse des nordöstlichen Gebäuderestes: die Palastanlage von oben, die Stadt, der Hohe Atlas im Hintergrund – alles zusammen ein wunderbares Bild.
Vom Palast geht es Richtung Saaditen–Gräber. Wir betreten den ehemaligen Garten der Kasbah Moschee. In dieser Anlage wurden schon lange vor den Saaditen einige Emire der Region und sogar der 1351 gestorbene Meriniden-Sultan Abou el Hassan beerdigt. Aber erst durch die Saaditen wurde sie zur königlichen Nekropole Nach der Vermauerung des Eingangsportales durch Moulay Ismael blieb die Anlage verborgen bis sie von den Franzosen 1917 wiederentdeckt und als architektonisches Meisterwerk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Sultan Ahmed el Mansour, der Erbauer des El Badi–Palastes, ließ auch das aus drei Räumen bestehende Mausoleum gegen Ende des 16.Jh. errichten. Der erste der drei Räume, der Saal des Mihrab, war ursprünglich als Gebetsraum gedacht. Dieser ist reich geschmückt und von vier eleganten Halbsäulen aus Marmor umgeben, worüber sich ein Hufeisenbogen erhebt. Der Raum selbst ist durch zwei Säulenpaare aus weißem Marmor in drei Schiffe unterteilt und erhält sein Licht durch eine Kuppellaterne mit drei hohen Fenstern. Um die Basis der Laterne läuft ein Zedernholzband mit Koraninschrift. Später wurden auch in diesem Raum Gräber angelegt, darunter das Grab des Alaouiten Sultans Moulay el Yazid, der durch eine Geheimtür der Moschee in diesen Raum gebracht wurde. Der anschließende „Raum der zwölf Säulen“ ist der dekorreichste der ganzen Anlage: In den Ecken des Mittelquadrates in Dreiergruppen angeordnet, ergeben die Säulen ein sich wiederholendes Triumphbogenschema. Feinste Kachelmosaike und Stuckarbeiten überziehen die Innenwände. Die Kapitelle der Säulen gehören zweifellos zu den schönsten des Landes. Das kleinste Fenster im oberen Bereich ist aus einer Marmorplatte herausgearbeitet – ein Detail, das auf Einflüsse aus Andalusien verweisen könnte… Auch die Decke aus Zedernholz ist ein Meisterwerk ihrer Art. Die Marmorkenotaphe – der mittlere ist jener von Ahmed el Mansours - sind reich geschmückt mit Inschriften, die Lobpreisungen Allahs oder Koransuren enthalten und nur in wenigen Fällen den Namen des Toten wiedergeben. Der Leichnam ist nach islamischem Verständnis nur eine leere Hülle und keiner weiterer Beachtung würdig - und dennoch hat Moulay Ismael es nicht gewagt, die Ruhe der Toten der gehassten Dynastie zu stören. Ein wichtiges Motiv für seine Zurückhaltung ist zweifellos darin zu sehen, dass ab dem 15. Jahrhundert die Verehrung heiliger Männer (marabouts) zunahm und seit der Zeit der Meriniden aufwendige Grabbauten errichtet wurde.
(z.B. in Moulay Idris, in Fès) Im kleineren, letzten Saal der Anlage, wo sich die Gräber von Kindern der Saaditenherrscher befinden, sind die Wände ähnlich dekoriert wie in den anderen Räumen. Das zweite an die Moschee angebaute Mausoleum ist weniger prachtvoll ausgestattet, als der erste Grabraum. Doch besticht die Außenfassade des Hauptraumes durch zwei wunderschöne Loggien, deren hochgezogener Mittelbogen auf zwei Säulen ruht, während die seitlichen Bögen sehr viel kleiner und unscheinbarer sind; dennoch ergibt sich auch hier das überaus repräsentative klassische Triumphbogenschema, das manchmal als Paradiespforte interpretiert wird. Die Fußböden beider Räume sind mit Kachelmosaiken bedeckt. Die Decken bestehen aus kunstvoll ineinander gefügten Zedernholzbalken, die leicht beschnitzt und bemalt sind.
Im Innenhof zwischen beiden Mausoleen sind, erkennbar an den einfachen Grabplatten aus schriftloser Keramik, weitere Angehörige der Familie bestattet.
Ob wir das Bab Agnaou, das schönste Tor von Marrakesch vor oder nach der Besichtigung der Saaditen Nekropole bewunderten, weiß ich nicht mehr. Sicher ist nur, dass ich erst später begriff, dass dieses Portal aus dem 12. Jh. stammt und dadurch besondere Bedeutung hat. Darüber hinaus ist es ein faszinierender Bau, der schon zur Zeit seiner Errichtung eher zu Repräsentation, denn zur Verteidigung diente. Die Portalgewände sind leicht zurückgestuft, Rund- und Hufeisenbögen, deren Stirnseiten von komplizierten Blendbögen und einem Plattenfries geschmückt werden, wechseln sich ab. Die oberen Zwickel sind mit Rankenwerk und Muscheln dekoriert. Der umlaufende Rahmen enthält Korantexte in Kufi-Schrift. Diese Beschreibung trifft es und wieder doch nicht. Wie soll man auch dem majästetischen Charakter gerecht werden, der dieses Portal umgibt? Der Einfachheit im Aufbau der Gesamtanlage? Der Klarheit und gleichzeitig zurückhaltende Form der Linien? Wir können nur bewundernd davor stehen und die schöpferische Kraft auf uns wirken lassen, die so viele Jahrhunderte überdauert hat.
Nach dieser Konzentration auf Architekturschönheiten werden wir in die Ville Nouvelle geführt. Hier erwartet uns eine Gartenanlage von besonderer Schönheit: der Jardin Majorelle. Dieser kaum fünf Hektar große Garten wurde in den zwanziger Jahren von Jacques Majorelle, dem französischen Kunstmaler und Dekorateur als künstlich geplanter Garten angelegt. Hier gibt es viele Arten von tropischen Pflanzen und eine Fülle von Kakteen. Yves Saint Laurent hat den Garten gekauft, renoviertund für die Öffentlichkeit geöffnet. Die Villa des Gründers und die Umfassungsmauern des Wasserlaufes sind in kornblumenblauer Farbe gestrichen und der absichtlich hergestellte Kontrast könnte krasser kaum sein…und dennoch passt alles zusammen, weil die angepflanzte Natur mit ihren bizarren Formen zu lebendigen Kunstwerken zusammengewachsen ist. Ich wandere ein bisschen verloren herum – einerseits möchte ich alles genau betrachten, andererseits wäre ein ruhiger Platz zum Ausruhen und Genießen sehr angenehm – aber dazu ist der Garten zu klein und die Zahl der Besucher zu groß.
Das Mittagessen führt uns wieder zurück zur Koutoubia Moschee. Wir sitzen im „Touristennepplokal“ und „bewundern“ die unter uns ausgebreiteten archäologische Ebene. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es fühlt sich an wie ein grauer immer dichter werdender Schleier, der sich zwischen mich und diese Stadt legt. Vielleicht bin ich schon müde von den vielen Reiseeindrücken – diese Erklärung läge sehr nahe. Doch wenn ich in mich hineinhorche, dann spüre ich immer deutlicher, dass es mit der Stadt direkt zu tun hat, wenn ich hier nur mit großer Mühe den Ausführungen unseres Führers und den berühmten Gebäuden die gebührende Aufmerksamkeit schenken kann. Ein ganz klein wenig könnte es auch mit der Auswahl der Sehenswürdigkeiten zu tun haben: verschlossene Moschee, zerstörter Palast, Nekropole und wunderschöner Garten, der von zu vielen Menschen „heimgesucht“ ist. Dazu das Mittagmahl wieder im Kreis der anderen Touristen, das mag schon melancholisch stimmen. ..
Später brechen wir auf in Richtung Altstadt und wandern an den Außenmauern des ehemaligen Glaoui-Palast vorbei, der heute in ein Museum umgewandelt ist. Wir erfahren noch einige Einzelheiten zum Thema Macht und Reichtum des Glaouistammes, die uns aber keine wirklichen Vorstellungen vermitteln können, weil uns konkrete Bilder und Erfahrungen dazu fehlen. Wieder berührt uns die Fremdheit einer Welt, die Macht und Genuss in einer Weise lebte, die dem modernen Menschen nahezu abhanden gekommen ist.
Die Wanderung durch die Souks erwarten wir mit großer Vorfreude, aber auch hier erfüllen sich meine Erwartungen nur sehr eingeschränkt. Wer sich einmal durch die Souks von Fès „gewuzelt“ hat, kann die Suoks von Marrakesch nur mit Wehmut durchwandern. Sicherlich kann man die alte Königsstadt, die in den letzten Jahren intensiv um wirtschaftlichen Aufschwung bemüht ist, der nicht zuletzt aus dem Tourismus kommt, nicht mit Fès vergleichen. Einer Stadt, die gerade durch ihre geringe wirtschaftliche Prosperität mit den alten Strukturen weiterleben muss. Hier ist zweifellos nicht der Ort, um zu entscheiden, welche Lebensform die Menschen glücklicher und zufriedener macht. Das ist eine Frage an die Zukunft, wenn sich einmal die kapitalistisch orientierte Lebensform zu Ende gelebt hat… Für mich, die Fremde, wirkten die Leute in den Souks von Fes freier und mehr auf sich selbst konzentriert. Sie eilten durch die engen Strassen um die Sachen zu bekommen, die zu Hause fehlten – sie standen und saßen herum; feilschten oder plauderten. Alles war in Bewegung, aber ohne Hast. Da sich meine Erwartungen unbewusst an meine Erfahrungen ausrichten, erwartete ich in Marrakesch eine ähnliche Atmosphäre wie in Fes oder noch eine Art Steigerung. Und wie das meistens so ist, wenn Erwartungen zu hoch geschraubt werden, folgt darauf die Enttäuschung. Das Nachdenken über die Gründe, warum es im Fall von Marrakesch so war, ergab ein Bündel von Antworten. Schon seit früher Jugend verband sich in meiner Vorstellung der Zauber des Orients direkt mit Marrakesch. Wahrscheinlich waren es u.a. die lasziven Bilder des ausgehenden 19. Jhs., das dem Orientkult besonders hingegeben war. Erzählungen und Märchen, Filme und Reiseberichte taten vermutlich das ihrige, um nach und nach in mir das Bild eines orientalischen Lebens zu verdichten, das mit Realität des harten und entbehrungsreichen Lebens in diesen Zonen kaum etwas gemeinsam hat.
Eine Art zu überleben oder sogar gut zu leben, besteht hier zweifellos im Handel mit Dingen, die andere erzeugt oder hergestellt haben – und die Souks bieten dazu die beste Möglichkeit. Das Angebot richtet sich naturgemäß nach der Nachfrage und seit Marrakesch im Orchester der Touristenstädte eine wichtige Rolle spielt, hat sich das Angebot der Händler mit verändert. Diese Veränderung wirkt sich auf das einheimische Publikum aus, das nicht mehr wie in Fes billige Gebrauchsartikel hier einkaufen will und auch bekommt, sondern vor touristisch interessanten Angeboten steht und daher den Bedarf von „normalen Lebensgütern“ woanders decken muss.
Damit ist auch der Zauber der Lebendigkeit innerhalb der Souks teilweise mit verschwunden
Die Touristen – jetzt übertrieben ironisch ausgedrückt – können einander fotografieren ohne gestört zu werden: z. B. in Berbergewänder gehüllt und wasserpfeifenrauchend am Boden sitzend. Und dennoch – der Zauber der engen Gassen, der bunten Farben und der Gerüche der kleinen Handwerksbetriebe, die oft rührend anmutende Kunstgegenstände anbieten, diesem Zauber kann auch das internationale Publikum nichts anhaben. Es ist nur schwieriger und mühsamer geworden, dem Eigentlichen nachzuspüren. Langsam schlendern wir durch die Gassen, begegnen einem Drechsler, der in Sekundenschnelle kleine Schachfiguren formt, einem Blecharbeiter, der roh gestaltete Figuren aus Abfallblech erzeugt, einem Teppichhändler, dessen Haltung eine unendliche Ruhe ausstrahlt. Sie sind da, die bekannten Gestalten der Souks , aber sie bestimmen nicht mehr kraftvoll das Geschehen.
Die Koranschule Ben Youssuof ist unser nächstes Ziel. Das Besondere an dieser Medersa ist, dass sie im 14. Jahrhundert gegründet wurde und bis 1960 hier unterrichtet wurde. Das Gebäude in seiner heutigen Gestalt stammt von dem Saaditen-Sultan Moulay Abdallah el Ghalib, der 1564/65 die Schule neu errichten ließ. Dadurch wurde damals die Medersa zur größten und wichtigsten im gesamten Maghreb. Durch ein wunderschönes geschnitztes Holztor betreten wir einen langen Flur mit bemalter Holzdecke. Den Eingang zum Innenhof bildet ein besonders prunkvolles reichgeschnitztes Portal aus Zedernholz, das aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt wie eine hölzerne Stickerei wirkt. In der Mitte des Hofes finden wir das obligate Brunnenbecken wieder, diesmal rechteckig, mit Marmorumfassung. Die beiden Längsseiten der Medersa werden von Galerien gesäumt, deren Pfeiler geschnitzte Aufbauten von Zedernholz tragen. Pfeiler und Innenhoffassade sind im unteren Bereich mit Fayence- Mosaiken geschmückt. Der mittlere Aufbau ist mit Gipsstukkatur und der obere Teil mit Holzschnitzereien bedeckt. Gegenüber dem Eingang befindet sich der Gebetssaal, der durch zwei Marmorsäulenreihen in drei Schiffe gegliedert ist. Über dem Zentralraum erhebt sich eine Kuppel, die im Innern zur Gänze mit Stalaktiten ausgekleidet und von kleinen Fenstern durchbrochen ist. Die absolute Einmaligkeit dieses Gebäudes eröffnet sich aber erst bei näherem Hinschauen. Die Gipsdekorationen rund um die Portale oder im inneren Kuppelbereich kann ich kaum würdigen, weil sie in ihrem Einfallsreichtum einfach nicht beschreibbar sind. Die künstlerische Qualität sucht ihresgleichen, wenn man die Harmonie der Linien, der Kombination von Pflanzenmotiven (wie Ranken, Blätter, Früchte) und Schriftzeichen näher ins Auge fasst. Alles bewegt sich, webt komplizierte Muster, ordnet sich um einen Mittelpunkt und greift gleichzeitig aus, verknüpft sich, verschlingt sich und bleibt trotzdem in sich geschlossen – einfach faszinierend und wunderschön.
Durch einen Vorraum geht es über eine Treppe in das Obergeschoß. Von mehreren kleinen Innenhöfen, die mit hölzernen Balkongittern abgesichert sind, gelangt Licht und Luft in die Zellen der Studenten. Einige Kammern werden zusätzlich durch Fenster belichtet, die sich in den Innenhof öffnen. Hier betreten wir die Privatsphäre einer Medersa und dürfen auf das Innere der Studierzimmer einen Blick werfen: Ein Samowar, ein Teetablett mit Kanne und Schalen, ein aufgeschlagener Koran am Lesepult...in der Ecke ein dickerer Teppich, ein Lammfell zum Schlafen: das ist alles, was in den Schülerräumen zu finden ist und dennoch reichte es völlig, um den Zielen nachzueifern, die hier angestrebt wurden. Nichts Unnötiges findet sich hier, was die Studenten vom Arbeiten abhielt!
Wir verabschieden uns von der letzten Medersa, die uns ganz besonders berührte, weil sie noch ein bisschen von dem Atem ahnen lässt, der die Räume hier belebte.
Wieder wandern wir durch die Gassen der Souks – diesmal mit dem klaren Ziel: Jemaa el Fna. Am Weg fasziniert noch die Koubba Barudiyn, ein Bau der späten Almoravidenzeit, der den Zerstörungen durch die Almohaden entgangen ist. Erst 1948 wurde dieses kleine Gebäude aus den Schuttmassen befreit, die es über die Jahrhunderte hinweg schützend ummantelten. Ich hätte das Gebäude gern von innen gesehen – muss mich aber, wie so oft mit der Erklärung des Reiseleiters begnügen, dass es ein kunsthistorisch wichtiger Bau ist.
Die Architektur dieses Brunnenhauses (als Zentrum der Waschanlage für die
gegenüberliegende Moschee Ben Youssouf ) bildet demnach ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der frühen omajadischen Kunst Andalusiens und dem maurischen Stil. Mir gefällt die harmonische Form, die durch eine Grundfläche von 5,40 m Breite, 7,30 m Länge und 12 m Höhe erzielt wurde. Wie die Baumeister früherer Zeiten es schafften, durch die richtigen Maße den Eindruck von Harmonie und Vollkommenheit zu erwecken, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Auch die Einfügung der drei Fenster, deren obere Teile in einem einfachen Lambarquienbogen eingeschnitten sind – passt zu der gesamten Form des Baues, der durch eine sternfömig dekorierte Kuppel bekrönt wird. Dass sich in dieser Kuppel eine Innen-dekoration findet, deren optische Gestaltung sich an Vorbildern aus Cordoba orientiert, kann ich nur nachlesen – dann aber folgen meine Augen wieder den Linien des auf der äußeren Kuppel aufgeblendeten Kranzes von sich kreuzenden Rund-bögen, die infolge Überschneidungen eine Vielzahl von Spitzbögen ausbilden. Den Kranz aus gezackten, sich nach oben hin verjüngenden Zinnen sehe ich erst beim zweiten Blick – so sehr bin ich dieses architektonische Detail hier schon gewöhnt.
Wir gehen weiter, bis wir plötzlich am Nordrand des riesigen und berühmten Platzes Jemaa el Fna stehen: der Platz der Toten. Der Name geht auf die Zeit zurück, wo dieser Platz als Gerichtsort diente und die Köpfe der hier Hingerichteten zur Schau gestellt wurden. Zu bestimmten Zeiten wurden Juden gezwungen die Köpfe einzupökeln, damit sie länger zur Schau gestellt werden konnten. Im 16. Jh. wurde an den Gerichtsplatz ein Foudouk für christliche Kaufleute angefügt. Mitte des 19. Jh. wurde das gesamte Viertel um den Hinrichtungsplatz durch die Explosion eines Munitionslagers stark zerstört. Was blieb, war ein weiter Platz, der heute von Cafès, Restaurants, Billighotels, Souvenirgeschäften, ect. gesäumt ist.
Der Platz war schon lange vor dem Touristenboom Treffpunkt von Händlern, Musiker, Tänzer, Schlangenbeschwörer, Feuerschluckern ect. – denen hier eine Bühne für ihre Waren, Geschichten und Kunststücke geboten wurde – Lust und Freiheit des Lebens und der Selbstdarstellung schafften sich hier ihren Raum. Wir kommen zu früh. Nur die Orangensaftverkäufer sind schon hier und verkaufen ein Glas Saft um zwei Euro. Wir schlendern quer über den Platz zu einem Terrassencafè, wo wir tatsächlich noch einen Tisch an der Estrade finden. Zu späterer Stunde ist es nahezu unmöglich, weil zu viele Leute den „malerischen Ausblick“ genießen wollen-
Die Beschreibung des Lebens und Treibens auf dem Platz aus historischer Perspektive überlasse ich an dieser Stelle jetzt Hugo v. Hoffmanstal
Zu „Reise im nördlichen Afrika“ Marrakesch
Rabat, Hafenstadt am atlantischen Ozean, den 17.März 1925
Unendlich oft denke ich an diese Gabe ,die Ihnen gegeben ist, vielleicht die Schönste von allen – nicht für die anderen aber für Sie selber – diese Gabe des Schauens und des tiefen eindringlichen Genießens durch den Sinn des Auges, der in unserem geistig-gerichteten, sinnlich armen Volk so wenigen gegeben ist. Oft habe ich an sie denken müssen, wenn ich zur Stunde vor dem Sonnenuntergang, diesen erwartend, auf meiner Turmzinne saß, zwanzig Meter hoch über den großen Marktplatz von Marrakesch, und unter mir diese riesige aus Lehm gebaute Stadt mit den roten zinnengekrönten Mauern - das Paris der Sahara, uralte Berberstadt, nur obenhin arabisiert, und durchflutet von den Karawanen der dunklen und halbdunklen Neger, die kommen um zu handeln, zu tauschen, zu kaufen und zu schauen. Dicht unter mir das Gewimmel des großen Platzes – der Platz der Toten heißt er, seltsamerweise, nach irgendwelchen großen Morden vor irgendwie viel hundert Jahren und so voll Leben, fünftausend Menschen oder zehntausend, sich durcheinander schiebend, und so viel Esel, so viele Kamele – und eigentlich geräuschlos, kein Laut als der von Trommeln und archaischen Musikinstrumenten, der eintönige , betäubende und aufregende Rhythmus – von da – von dort. Da die geschminkten kleinen Tänzer hergerichtet, wie Mädchen, dort der Schlangenbändiger mit seinen Gehilfen, die Flöte spielen und Tambourin schlagen; er ein Riese aus einem Hochtal des Atlas, mit einer starr wegstehenden schwarzen Mähne – und von einer Grazie bei aller Wildheit und einer Art Humor - und wieder unheimlich und großartig wenn er einen aus der Menge der im Kreis herumsitzenden oder stehenden sich aussucht und ihn heranwinkt, ihn anhaucht, ihm die Zukunft voraussagt; dann von einer wilden Clownerie, wenn er – indess die böse sandgraue Viper noch erst halbschläfrig auf dem Tambourin liegt und hie und da aufzuckt, seinen Gehilfen, den Kahlköpfigen, hin und her zerrt als wollte er ihn auf die Schlange stoßen – und der wunderbare, genau um ihn gezogene Kreis um ihn von Sitzenden und Stehenden, alte Männer und Jünglinge, Araber und Sudanesen, vornehme Weißbärtige und Bettler in Fetzen – und alle mit der gleichen Aufmerksamkeit des völlig gespannten Zusehens, und ein ebensolcher genau gezogener Kreis um den alten Erzähler von Heldentaten und Schwänken, ein kleinerer um den der zu einer Flöte eine Liebesgeschichte halb recitiert, halb singt – vielleicht acht solcher Kreise die den einen lang gezogenen Teil des Marktes ausfüllen. Hie und da hält einer, der vorbeikommt, sein Reittier an und sieht oder hört über die Schultern der Stehenden zu, andere treten aus dem Kreis und gehen wieder ihrem Handel nach; An der drüberen Seite, wo der Markt sich verbreitert stehen in einem durchsonnten Staub an hundert Esel mit Bündeln grüner Gerste beladen, dort gehen die Käufer beständig ab und zu. Hebe ich mein Auge etwas von dem Markt weg, so blicke ich in einen Foduk, solch einen riesigen offenen Hof, vielleicht zweihundert Schritt im Geviert; dort laden sie Warenballen ab, hie und da kniet ein Kamel, und die grauen geduldigen Esel warten im Halbschatten auf neue Last oder ein bisschen Ruhe. Um diesen großen Hof, schon dunkelnd, mit einem Licht hie und da – das Gewirre der engen schilfgedeckten Kaufmannsgassen: der Suk. Da schließen jetzt die Buden. Am Tag ist da ein Leben ohnegleichen auf engstem Raum. Eine Gasse voller Schneider; eine voller Färber; oder Juweliere, oder Schmiede, oder Pantoffelhändler oder Gewürzhändler. Kein Laden größer als ein Wandschrank. Sie sitzen droben auf den Gewürzen, auf den Datteln. Und in einem solchen Raum arbeitet der Silberschmied, ein Kind bläst ihm das Feuer an und dahinter schläft ein Alter und die Funken fliegen ihm um den Bart. Drehe ich mich hinter mich, vom Markt weg, so liegt die Stadt ganz still, tausend flache Dächer aus Lehm hie und da ein Palast, mit hohen Mauern, finstren Zinnen, dahinter ein Garten. Rings um die Stadt ein doppelt Ring von gezinnten Mauern, und um diese ein Gürtel von Palmen, ringsumlaufend. Und draußen noch Nomadendörfer für die wandernden Stämme, die vor den Toren lagern. Und weiter die großen Ölhaine des Sultans mit den spiegelnden in Stein gefassten Weihern. Und um all dies herum der weiteste Horizont den mein Auge je gesehen hat. Südlich in geradem Strich die herrliche Schneekette des hohen Atlas, an die zwanzig ewig beschneite Gipfel – keiner viel geringer als der Montblanc. Im Westen nicht sichtbar, aber ahnbar, das Meer, darein jetzt mit einem jähen Ruck die Sonne versinkt – so dass ein violetter Schatten die Stadt überläuft und der eine Teil des Palmengürtels in flüssiges Gold sich auflöst. Im Norden gegen Nordost streichend, ein geringeres Gebirg, amethystfarb und den hellgrünen Himmel. Aber wer wollte das beschreiben! Und drunten der Markt immer lauter, die Handtrommeln und Pfeifen immer heftiger.
Es ist erst Nachmittag und uns bleibt daher Zeit zum Plaudern und Ausruhen. Manchmal drücken wir auf den Auslöser der Kamera, um die wachsende Besiedelung des Platzes zu dokumentieren. Später werden wir uns dem Treiben wieder direkt zuwenden. Werden durch die Gruppen von Schaustellern, Glücksverheißern, Tierhändlern und ambulante Restaurants wandern, wo alles lärmt und lebt … Doch es reißt mich nicht mit. Warum frage ich mich? Ist es zu gewollt das Ganze? Wird hier nicht Theater am Theater gespielt?
Mittlerweile ist es Abend geworden und die untergehende Sonne taucht den ganzen
Platz und die rot gefärbelten Häuser in ein überirdisches Licht.
Das Licht von Marrakesch!
Ich werde es nie vergessen! Und wenn ich einmal wiederkomme, dann wegen der orientalischen Zauberkraft des Lichtes, das diese Stadt von einer Minute zur andern verwandeln kann – Marrakesch, das von einem alten arabischen Dichter als über den Atlas geworfene Perle des Südens genannt wird - wird auch im Touristenstrom nicht untergehen – dessen bin ich mir sicher…
Da wir die Sehenswürdigkeiten Casablancas schon am ersten Tag „erfassten“, bleibt uns ein Tag, um Unbekanntes zu erleben. Und es gelingt uns mehr, als uns lieb ist. Der Vorschlag unseres Führers zum Ourikatal aufzubrechen, wo in Thine-de-Ourika ein faszinierender Wochenmarkt stattfindet, wird allgemein begrüßt und wir fahren los. Wir fahren nach Süden und durchqueren Feldlandschaften, die teils brach liegen, teils grün bewachsen sind und kommen immer tiefer in die Vorgebirge des Atlas hinein, bis wir schließlich Thine-de-Ourika erreichen, wo aber gerade kein Wochenmarkt stattfindet. Grund dafür ist das Hammelfest, das mehrere Tage lang gefeiert wird. Unser Reiseleiter kocht vor Ärger – wir nehmen es eher gelassen. Die Frage ist nur, wohin jetzt? Zunächst fahren wir noch tiefer in das Tal, das einigermaßen bewaldet ist und an ähnliche Ausflüge in Griechenland erinnert. Schließlich halten wir in einem „Bergdorf“.
Am Fluss steht eine alte Kornmühle, die uns als Sehenswürdigkeit präsentiert wird. Ich klettere aber lieber hinunter zu dem klaren Wasser, das sich hier durch den felsigen Talboden dahinschlängelt. Hier ist es ein bisschen einsam und ich kann die Landschaft auf mich wirken lassen. Doch bald ertönt der Ruf zum Bus und wir fahren zurück zum Freund unseres Führers, der mit einer sechsköpfigen Familie in einem alten Berberhaus lebt. Es sind sehr schöne Menschen – der Vater, die Frau und die Kinder. Im Obergeschoß des Hauses – eher der „Behausung“ - wohnt die Familie, unten die Tiere. Wo sie schlafen? Das frage ich mich, weil das Wohnzimmer nur mit einem Kanapee und einer Bank ausgestattet ist, wo sich höchstens drei Leute aufhalten können – in einem leeren Gelass neben dem Haupthaus steht ein alter Billardtisch. Irgendwie habe ich den Eindruck in einer Theateraufführung mitzuspielen – doch meine Erfahrungen in Peru haben mich gelehrt, dass Menschen tatsächlich so leben können, wie wir es hier erleben. Eigentlich habe ich hier nichts verloren – Armut anschauen das ist nichts für mich. Ich schenke der ältesten Tochter meinen Schal und wende mich zurück zum Bus. Wenn ich nicht wirklich wirksam helfen kann, dann will ich auch nicht als Tourist die Armut als romantisches oder pittoreskes Ereignis erleben. Wir fahren die Straße wieder zurück. Lassen Marrakesch rechter Hand liegen und fahren der Küste zu. Es geht durch fruchtbare Ebenen, wo wirklich alles wächst und gedeiht, vorausgesetzt es gibt genug Regen. Die Ortschaften, die wir durchfahren sind einfachste Siedlungen – auch hier gibt es Armut, allerdings mehr oder minder verborgen hinter einer moderneren Infrastruktur, wie Geschäfte, Postämter, Tankstellen und Werkstätten…
Am Weg sammeln sich immer wieder große Gruppen von Leuten: Die lapidare Antwort unseres Reiseleiters auf unsere Frage: Warum dem so sei? “Na das Hammelfest ist vorbei! Jetzt fahren wieder alle zu ihrer Arbeit!
Unser nächstes Ziel ist die Küstenstadt El Jadida. Man nimmt an, dass die Phönizier hier bereits 460 v. Chr. einen Handelsstützpunkt gegründet haben. Archäologische Beweise gibt es dafür allerdings nicht. Die Region war den Portugiesen schon einige Zeit tributpflichtig, bevor diese hier 1502 eine kleine Festung errichteten, die von den Einheimischen Brij el Jadida (El Jadida = die Neue) genannt wurde. Später errichteten die Portugiesen neben dem Fort eine befestigte Stadt: Mazagano. Diese Stadt wurde später ein wichtiger Stützpunkt am Atlantik, nicht nur als Handelsplatz, sondern auch als Etappen- und Versorgungsstation für die nach Indien segelnden Schiffe. Dank der starken Befestigung und der günstigen Lage konnten die Portugiesen die Stadt gegen alle Angriffe, sowohl einzelner aufsässiger Berberstämme als auch der marokkani-schen Sultane, während 260 Jahre halten. Schwer hatten sie es in der Zeit des Saaditen-Sultans Moulay Abdallah, der die Stadt und ihre 2600 Bewacher mit einem zahlenmäßig weit überlegenen Heer lange, jedoch ohne Erfolg belagerte. 1769 mussten die wirtschaftlich und militärisch geschwächten Portugiesen ihre letzten marokkanischen Besitzungen räumen. Als die Truppen des Alouiten-Sultans Mohammed Ben Abdallah in die Stadt einzogen, detonierten von den Portugiesen gelegten Sprengsätze, die mehr als tausend marokkanischen Soldaten das Leben kostete. Danach wurde das zerstörte El Jadida fast fünfzig Jahre nicht mehr betreten. Erst 1815 setzte unter Moulay Slimane der Wiederaufbau der zerstörten Stadt, einschließlich der Hafenanlagen und Befestigung, zaghaft ein. Im Jahre 1821 wurden viele aus Azemmour ausgewiesene Juden unter Moulay Abd er Rhaman in der Portugiesenstadt angesiedelt, während Berber aus der Doukkala sich vor der Stadt ihre Vierteln errichteten. Obwohl wiederbelebt, blieb El Jadida nach wie vor ein bedeutungsloser Ort. Erst unter den Franzosen entwickelte sich El Jadida zu einem wohlhabenden Hafen- und Handelszentrum (Errichtung der Neustadt) und hieß wieder Mazagan. Nach Erlangung der Unabhängigkeit wurde dem Ort wieder der arabische Name El Jadida verliehen.
Wir durchschreiten die mächtige Stadtmauer und stehen in einem etwas verwahrlosten Städtchen mit eindeutig südeuropäischem Flair.
Dreistöckige Häuser mit Fensterreihen mit lammelierten Sonnenläden aus Holz –
alles in weinrot gehalten oder in schmutzigem grauweiß; altersschwach, aber edel in den Proportionen. So präsentieren sich die portugiesischen Gebäude heute – manche sind bewohnt, manche verlassen. Alles im allen ein romantischer Eindruck, aber geprägt von Melancholie – die immer zu spüren ist, wo große Zeiten unwiederbringlich vorbei sind. Wir wandern weiter durch die Gassen der ehemaligen Mellah, die hier ebenso von ihren jüdischen Bewohnern verlassen wurde, wie in allen übrigen Städten Marokkos. Das bedeutendste Bauwerk der Stadt ist die Portugiesische Zisterne, so genannt, weil man lange Zeit annahm, dass sie tatsächlich diesem Zweck diente. Heute neigt man mehr zur Ansicht, dass es Vorratsräume waren, worin auch Tiere untergebracht werden konnten. Der riesige unterirdische Raum wurde 1541 errichtet. Das vollständig erhaltene spätgotische Kreuzrippengewölbe wird von 25 Säulen getragen, die in fünf Reihen zu je fünf Säulen angeordnet sind. Die Beleuchtung erfolgt durch eine kreisrunde Öffnung in der Mitte der Decke, wodurch der Raum in ein geradezu mystische Licht getaucht wird. Unter der Lichtöffnung befindet sich ein gemauertes Wasserbecken von ähnlicher Größe, um das Regenwasser aufzufangen. Der Fußboden besteht aus schönen rotbraunen Ziegeln, die jetzt das ganze Jahr über unter Wasser stehen. Wir werden ganz still angesichts dieses merkwürdigen Bauwerkes, das uns so unmittelbar in eine ganz andere Epoche versetzt. Ich verliebe mich in die kurzen mit einfachen Platten bedeckten Säulen, in das raue und umschließende Kreuzrippengewölbe, in das Licht, das den Raum von oben erhellt und sich in der weiten Wasserfläche spiegelt – einfach in alles, was dieser unterirdische Bau zu bieten hat…
Noch ganz benommen folge ich den Anderen auf die Stufen der Festungsmauern hinauf.
Oben angekommen eröffnet sich ein Blick, der uns den Atem nimmt. Vor uns das Meer, das sich in seinen schönsten Farben in den Horizont hineinbreitet. Gerade vor uns ein kleiner Fischerhafen, der den malerischen Anblick bietet, den wir von früheren Reisen kennen; sich aber aus fünfzig Meter Höhe doch wieder ganz anders ausnimmt. Linker Hand der Blick auf die Mole – rechts auf die Festungs-anlagen, die mit ihrer weiß ocker Färbelung und dem grünen Bewuchs der Laufgräben ein unglaublich malerischen Eindruck erwecken. Wir wandern lange auf den Festungsmauern herum – immer wieder einen neuen Ausblick, eine neue architektonische Schönheit entdeckend, bis wir – ja bis wir wieder gesammelt werden, um am Strand von El Jadida eine kurze Rast einzulegen.
Die Rast verbringe ich mit den Möwen, den Krabben und Muscheln, den Schnecken und den Wellen, die leise an die steinigen Ufer schlagen. Ich könnte hier stundenlang verweilen – doch wieder geht es weiter, nach Norden in Richtung Hotel. Wir fahren entlang der Küstenstraße und erfahren ein wenig von der Lebensphilosophie der neuen religiösen Orientierung, die auch vor Marokko, das immer als liberaleres Land galt, nicht Halt macht. Es ist sehr eng geworden in Marokko! kommentiert unser Reiseleiter diese Entwicklung …
Die Landschaft entlang der Küste hat mediterranen Charakter. Es gibt viele kleine Waldstücke, die sich mit schön angelegten Gärten abwechseln. Die Badestädtchen sind eher einfache Siedlungen, wo große Hotelbauten fast zur Gänze fehlen. Ich wäre hier gern im Sommer vorbeigekommen – aber dieser Strand ist keine europäische Destination! Später kommen wir zu dem Hotel, das wir am ersten Tag bewohnten. Jetzt ist alles schon vertraut und ich wohne in meinem alten Zimmer. Ich freue mich, weil ich über einen funktionstüchtigen Wärmestrahler verfüge – ich bin müde und möchte nur noch schlafen. Doch das Essen stärkt uns alle ein wenig und wir tauschen noch Adressen aus. Die eingekauften Gewänder werden vorgeführt und wir genießen unser letztes Beisammensein. Wir hatten Glück! Wir waren eine reise erfahrene Gruppe, die sich locker in allen Situationen zurechtfand. Eher war alles zu luxuriös organisiert für uns und doch haben wir es genossen, neben unseren Reiseeindrücken noch gutes Essen zu bekommen und ordentlich untergebracht zu sein… Ich bin dankbar für diese Reise und möchte sie empfehlen, wenn man Neues und Fremdes offen annehmen will, ohne Zaudern und Vorbehalt. Morgen werden wir über Brüssel wieder zurück nach Wien fliegen – noch weiß ich nicht, dass mir eine große Aufregung bevorsteht, die aber schließlich souverän vom Reiseveranstalter gelöst werden wird. Mein Gruppenticket war auf den Vortag eingetragen und ich daher ohne Platzreservierung für den Rückflug. Glücklicherweise waren noch Plätze in der business-class frei. Ich bezahlte mit Visacard und bekam den Betrag später problemlos ersetzt. Allerdings war es extrem aufregend und anstrengend, bis wir diese Lösung gefunden hatten… Noch träume ich davon an den Strand hinunterzulaufen und die letzten Stunden in Marokko am Meer zu verbringen. Doch gestaltet es sich sehr mühsam an die Küste zu kommen. Immer wieder versperren Privathäuser und Zäune den direkten Zugang zum Wasser. Nach etlichen Versuchen gelingt es mir, gemeinsam mit Dieter, einen meiner Reisegefährten, bis an die Meeresküste zu kommen. Felsige ausgewaschene Platten erstrecken sich weit hinaus ins Wasser, das in weißgekrönten Wellen ans Ufer anschlägt. Wir versinken in den Anblick der vertrauten und gleichzeitig so fremden Schönheit – bis wir uns losreißen müssen, um zurück zuwandern zu den Anderen, zum Bus, zurück in unser normales Leben.
Auf der nun zu Ende gehenden Reise durften wir in eine fremde Welt eintauchen, die uns bisher verschlossen war. Wir haben über dieses faszinierende Land viel Neues und Interessantes erfahren. Alte Vorstellungen wurden revidiert und ergänzt: besonders im Hinblick auf die europäisch-marokkanischen Beziehungen, die wir dem langjährigen Studium unseres Reiseleiters verdanken.
Dieser kleine Bericht ist mein Dank an ein wunderschönes, faszinierendes Land, das unseren Blick erweiterte, unsere Sinne in aufregender Weise berührte und unvergessliche Erlebnisse bereithielt. Vieles Gute im Leben ist nur unter großen Mühen zu erreichen. Meine Marokkoreise gehört nicht dazu – sie war ein reines Geschenk.
Betten Arnold: Marokko, Köln 1998 Baedeker Reiseführer: Marokko, 5. Auflage 2001 Charles de Foucauld: Dem geringsten Bruder, Rom 1973
Benesch Kurt: Die Spur in der Wüste: Das Leben des Charles de Foucauld Styria Graz 1985 Hugo v.Hoffmansthal: Gesammelte Werke: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main 1979 Ibn Chaldun: Ausgewählte Abschnitte der muqaddima, Tübingen 1951.
Choukri, Mohammed: Das nackte Brot, Nördlingen: Greno 1986
Bowles Paul: Das Haus der Spinne Goldmann 1988